Jean-Claude Juncker: "Russland als großes Ganzes und stolze Nation behandeln"

Jean-Claude Juncker: "Russland als großes Ganzes und stolze Nation behandeln"
Von Euronews
Diesen Artikel teilenKommentare
Diesen Artikel teilenClose Button
Den Link zum Einbetten des Videos kopierenCopy to clipboardCopied

Der EU-Kommissionspräsident spricht im euronews-Interview auch über den Umgang mit der Türkei, die kommenden Wahlen in den EU-Staaten und Sanktionen gegen Österreich.

euronews:
Was könnte das Ende Europas herbeiführen? Brexit? Populismus? Die Flüchtlingskrise? Die schwierige Wirtschaftslage? Die EU befindet sich heute in einer der schwierigsten Phasen seit ihrer Schaffung. Die Wahlergebnisse in Österreich, Italien, Frankreich und Deutschland stellen eine Bedrohung für die EU dar. Wer könnte uns besser über die Herausforderungen Auskunft geben, als der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker? Am Anfang Ihres Mandates haben Sie gesagt, dass Ihre Kommission die “Kommission der letzten Chance” sein würde. Wie glauben Sie, kann die Europäische Union überleben?

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker:
“Die Existenz der EU wird nicht angezweifelt.”

euronews:
Wirklich?

Juncker:
“Europas Überleben bedrohen. Die französischen und deutschen Wahlen bedrohen aber die Zukunft Europas nicht, zumindest nicht, was die Bürger betrifft. Aber Sie haben recht, ich habe gesagt, dass diese Kommission, bei der ich die Ehre habe, den Vorsitz zu leiten, die ‘Kommission der letzten Chance’ sein würde. Was ich damit sagen wollte, ist, dass die Europäische Union sich in einem Zeitraum der ‘letzten Chance’ befindet, weil die Kluft zwischen den EU-Bürgern und dem öffentlichen sowie politischen Handeln der EU fast täglich immer größer wird und das wollte ich beseitigen.”

euronews:
Die Institutionen werden oft dafür kritisiert, viel zu weit weg von den Europäern zu sein. Ich habe hier eine Frage von einem Onlinezuschauer. Wir hatten unsere Zuschauer im Netz dazu aufgerufen, uns Fragen für dieses Interview zu schicken. Diese hier stammt von Moussa Burema. Was ist die größte Schwäche der Europäischen Union?

Juncker:
“Die fehlende Liebe. Wir wissen nicht wirklich viel übereinander. Was wissen die Menschen in Lappland über Sizilien? Was wissen die Italiener im Süden über Polens Schulden? Nichts. Wir müssen uns mehr füreinander interessieren.”

euronews:
In dieser kritischen Zeit für die EU, verlieren Sie gerade einen engen und mächtigen Verbündeten. Ich meine damit den Präsidenten des EU-Parlaments Martin Schulz. Das muss ein großer Schlag für Sie sein, der zum ungünstigsten Zeitpunkt kommt?

Juncker:
“Nein, ich würde dem Abschied von Martin Schulz nicht so übermäßig viel Bedeutung beimessen. Aber es stimmt natürlich, dass ich mit Martin Schulz gut zusammengearbeitet habe. Er war übrigens mein Gegner, als es darum ging, wer Präsident der Kommission wird. Wir standen beide auf der Liste oben, er für die Sozialisten, ich für die Christdemokraten. Wir haben enge Arbeitsbeziehungen entwickelt. Die Beziehungen zwischen dem EU-Parlament und der Kommission waren noch nie so warmherzig und stark, wie unter seiner Präsidentschaft.”

euronews:
Wird sein Abgang Sie nicht schwächen?

Juncker:
“So weit würde ich nicht gehen. Aber ich werde das gegenseitige Verständnis vermissen.”

euronews:
Wir haben aber zunehmend den Eindruck, dass die Europäische Union immer mehr wie ein Kartenhaus aussieht. Österreich wird in ein paar Tagen eine Präsidentschaftswahl abhalten, bei der die Rechtspopulisten zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die Macht übernehmen könnten. Es gibt Gespräche, dann ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft abzuhalten. Die Lage ist besorgniserregend, finden Sie nicht?

Juncker:
“Wir können den EU-Bürgern das Recht, ihre Meinung zu äußern, nicht verweigern. Was das EU-Referendum betrifft, ist es meiner Meinung nicht vernünftig, diese Art von Debatte abzuhalten. Nicht nur, weil ich über den Ausgang besorgt sein könnte, sondern weil das nur eine Kontroverse nach der anderen auslöst und zu den vielen Streitigkeiten, die es bereits gibt, beiträgt. Außerdem glaube ich nicht, dass der nächste Präsident Österreichs, wer auch immer das sein mag, sich in solch ein Abenteuer stürzt.”

euronews:
Auch dann, wenn er das bereits angekündigt und versprochen hat?

Juncker:
“Ich habe gelernt, unterscheiden zu können, was Wahlversprechen und konkrete Politik sind. Es ist einfach unvorstellbar, dass wir uns daran gewöhnen, dass Wahlversprechen eine Sache sind und die konkrete Politik dann eine andere. Da versagt Demokratie. Wir können während eines Wahlkampfes nicht einfach sagen, was wir wollen.”

euronews:
Könnte das Land mit Sanktionen belegt werden?

Juncker:
“Wir haben bereits einmal Sanktionen gegen Österreich verhängt, in einem Moment von autobiografischer Schwäche, als die Rechtspopulisten an der Regierung in Österreich beteiligt waren. Das war ein Fehler, denn die Wähler sollten nicht dafür bestraft werden, weil sie eine schlechte Wahl getroffen haben. Man muss diskutieren, debattieren, und sich mit der politischen Realität auseinandersetzen, die so aussehen könnte, wie Sie das beschreiben. Der österreichische Präsident hat aber vor allem eine protokollarische Rolle. Er hat weniger politischen Einfluss. Ich mache mir da keine großen Sorgen, aber ich hoffe natürlich nicht, dass der rechtspopulistische Kandidat gewinnt.”

euronews:
In Italien wird am gleichen Tag ein Referendum abgehalten. Es könnte Ministerpräsident Matteo Renzi den Job kosten, sollte er verlieren und die Euroskeptiker näher an die Macht bringen und möglicherweise auch den Euro gefährden. Könnte das eine neue Bewegung in Gang setzen?

Juncker:
“Ich unterhalte mit dem italienischen Ministerpräsidenten ruhige Beziehungen. Wenn wir unter vier Augen sprechen, stimmen wir in den Grundsätzen überein. Die Kommission hat für Italien viel getan, genauso wie Italien viel für die Kommission getan hat. Italien hat in der Flüchtlingskrise ein Exempel statuiert. Italien hat das Recht sich darüber zu beschweren, dass die anderen Europäer – nicht alle anderen Europäer genügend Unterstützung zeigen. Denn Italien zeigt enorme Bemühungen im Umgang mit der Flüchtlingskrise und deren Konsequenzen. Während des EU-Wahlkampfes habe ich vor dem Parlament andere EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, mehr Solidarität gegenüber Italien und Griechenland zu zeigen.”

euronews:
Aber Italien hat sie darum gebeten, mehr Unterstützung zu zeigen und auch was das Budget betrifft, flexibler zu sein. Es scheint, als ob Sie mehr Flexibilität gegenüber Spanien und Portugal gezeigt haben, warum also nicht auch gegenüber Italien?

Juncker:
“2015 und 2016 hat Italien mehr ausgegeben, ohne uns Bescheid zu geben. 19 Milliarden Euro mehr als der Stabilitätspakt vorsieht. Wenn die Kommission nicht Flexibilität beim Stabilitätspakt gezeigt hätte, dann hätte Italien 19 Milliarden Euro weniger ausgeben müssen. Wir sind also nicht besonders streng mit Italien. Ich stelle fest, dass ich in anderen Ländern wie Deutschland, Österreich, den Niederlanden dafür kritisiert werde, zu flexibel im Umgang mit Italien zu sein. Die Mitgliedsstaaten sollten sich bei der Analyse gleiche Maßstäbe setzen.”

euronews:
Werfen wir nun einen Blick auf die anderen Wahlen, die ich zu Beginn des Interviews erwähnt habe. Im kommenden April ist Frankreich dran. Nun eine weitere Frage von einem Zuschauer, Robert Biddle. Er möchte Folgendes wissen: Sollte Marine Le Pen gewählt werden, wäre das dann der letzte Nagel im Sarg des europäischen Projektes?

Juncker:
“Das ist eine Hypothese, mit der ich nicht rechne.”

euronews:
Welche Hypothese?

Juncker:
“Die Hypothese, dass Frau Le Pen die zukünftige Präsidentin der französischen Republik wird. Sie wird es nicht werden.”

euronews:
Ist das wirklich realistisch, das mit so viel Sicherheit zu sagen, besonders nach dem Brexit?

Juncker:
“Sie dürfen nicht Menschen und Länder miteinander verwechseln. Der Brexit hat andere tiefer liegende Ursachen. Das hätte die unwahrscheinliche Wahl von Frau Le Pen in Frankreich nicht. Wir dürfen diese zwei Dinge nicht miteinander vermischen, das ist gefährlich.”

euronews:
Sollte sie gewählt werden und das muss als Möglichkeit in Betracht gezogen werden, wenn man sich die letzten Umfragen anschaut, wenn man sich auf diese heute noch verlassen kann. Die grundsätzliche Frage ist, kann die EU überleben, wenn Sie Präsidentin wird?

Juncker:
“Es ist eine Frage, die wir nicht mal stellen sollten.”

euronews:
Im September finden in Deutschland die Wahlen statt, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel könnte dann gegen Ihren Verbündeten Martin Schulz antreten. Für wen würden Sie stimmen?

Juncker:
“Jedes Mal, wenn ich in eine nationale Wahldebatte oder eine Referendumsdebatte eingreife, wird mir gesagt, ich sollte mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Jedes Mal, wenn in einem Land gewählt wird, werde ich gefragt, für wen ich stimmen würde. Natürlich bin ich Christdemokrat, also ist meine Wahl offensichtlich. Das ist ja klar und es ist auch in keiner Weise ein Gegenargument in Bezug auf Martin Schulz, den ich sehr schätze, manchmal sogar auf eine Art und Weise, die die Christdemokraten stört.”

euronews:
Die Brexit-Abstimmung hat die Gesamtsituation verändert, und hat die EU möglicherweise an einen Punkt gebracht, an dem sie nicht mehr zurück kann. Ich habe eine weitere Frage von einem Onlinezuschauer. Nicolas Neumann möchte wissen, ob es gut ist, gegenüber Großbritannien einen harten Kurs zu fahren, um andere Länder zu entmutigen, die mit dem Gedanken spielen, die EU zu verlassen.

Juncker:
“Diese Frage stellt sich so nicht. Ich bin nicht auf Rache aus, wenn es um Großbritannien geht. Die Briten haben innerhalb des allgemeinen Wahlrechts ihre Meinung ausgedrückt. Doch ich hoffe, dass andere nicht dasselbe tun werden. Aber was Großbritannien betrifft, sollten wir keine Rachegelüste hegen. Wir müssen die Probleme lösen, die diese Entscheidung für Großbritannien und die Europäer verursacht hat. Wir werden sicherstellen, dass die Beziehungen zwischen den britischen Inseln und dem Festland harmonisch bleiben, müssen gleichzeitig aber wissen, dass die Briten nicht dieselben Rechte und Vorteile wie als Bürger der Europäischen Union haben können.”

euronews:
Was wären Sie bereit abzugeben und was ist nicht verhandelbar?

Juncker:
“Zunächst einmal sind Sie nicht die britische Premierministerin, also werde ich Ihnen nicht das sagen, was ich ihr sagen werde. Es gibt eine rote Linie, wie die Briten sagen. Wenn die britische Exportindustrie und das Finanzwesen in vollem Umfang von den Vorteilen des Binnenmarktes profitieren wollen, wenn sie direkten Zugang zum EU-Binnenmarkt wollen, müssen unsere britischen Freunde die grundlegenden und maßgebenden Prinzipien des Binnenmarktes respektieren. Es ist nicht vorstellbar, dass man von den Vorteilen des Binnenmarktes profitiert, ohne zum Beispiel das Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu respektieren. Das wird nicht gehen.”

euronews:
Inmitten dieser Krisen haben wir Donald Trump, sie haben ihn erwähnt. Sie scheinen nicht genau zu wissen, wie man ihn einschätzen sollte und Sie scheinen ihn nicht allzu sehr zu mögen.

Juncker:
“Mir fällt es schon schwer, meine eigene Psychologie zu verstehen. Warum sollte ich mich also in die Psychologie anderer stürzen? Man wird sehen. Die Beziehungen zwischen den beiden Größen USA und Europa werden überleben…”

euronews:
Und wie sehen Sie Donald Trump?

Juncker:
“Ich kenne ihn nicht. Außer Herrn Farage gibt es wenige Europäer, die ihn getroffen haben. Ich warte den Moment oder die Gelegenheit ab, wenn ich mich mit ihm unterhalten werde, um zu sehen, wie er über die großen Themen unserer Zeit denkt.”

euronews:
Eines dieser Themen ist die Beziehung zu Russland. Präsident Barack Obama und einige führende europäische Politiker sagten, sie wollen die Sanktionen gegen Moskau aufrechterhalten. Donald Trump kommt in ein paar Monaten an die Macht, das ist also nur kurzfristig.

Juncker:
“Wir sind nicht von außenpolitischen Entscheidungen der USA abhängig. Die USA werden das tun, was die USA tun wollen. Die Europäer haben ihre eigenen Interessen und eigene Bereiche, mit denen sie umgehen müssen.”

euronews:
Unterstützen Sie das Aufrechterhalten der Sanktionen?

Juncker:
“Bislang sehe ich kein Argument, das für die sofortige Aufhebung der Sanktionen gegen Russland spricht. Doch ich möchte, dass wir mit Russland ein umfassendes Einvernehmen haben. Es gibt in Europa keine Sicherheitsarchitektur ohne Russland – das muss man wissen. Die Europäische Union erstreckt sich über ein Gebiet von 5,5 Millionen Quadratkilometern und Russland über 17,5 Millionen Quadratkilometer. Man muss Russland als großes Ganzes und als eine stolze Nation behandeln. Man muss viel über die Weiten des Landes wissen, die wir derzeit vollkommen ignorieren. Und ich möchte, dass wir mit Russland auf Augenhöhe sprechen, denn Russland ist keineswegs nur eine “Regionalmacht”, wie Präsident Obama sagte. Das ist ein große Fehleinschätzung.”

euronews:
Ich spreche die Türkei an, weil sie für Sie beim Umgang mit der Flüchtlingkrise enorm wichtig ist. Präsident Erdogan bedroht sie. Können Sie mit ihm weiterverhandeln? Kann er Ihr Partner sein?

Juncker:
“Die Türkei ist nicht nur deshalb ein wichtiger Partner, weil es um die Flüchtlingskrise geht. Die Türkei hat drei Millionen Migranten und Flüchtlinge auf ihrem Gebiet aufgenommen. Europa macht das nicht, also möchte ich, dass man in Europa Abstand davon nimmt, die Türkei in dieser Hinsicht zu belehren. Die Türkei leistet hier viel mehr als Europa – gleiches gilt für Jordanien und den Libanon. Man muss also zurückhaltend sein, wenn man über diese Frage spricht. Was den Rest betrifft, ist die Türkei ebenfalls ein entscheidender Partner für die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer, weil sie dort ist, wo sie ist. Doch die Türkei, die in den vergangenen zehn Jahren in Sachen Demokratie große Fortschritte gemacht hat, wendet sich seit zwei Jahren und vor allem in den letzten Monaten seit dem Putsch im Juli von Europa ab und entfernt sich jeden Tag ein wenig mehr von Europa.”

euronews:
Und umgekehrt!

Juncker:
“Nein, nein, nein. Wir werden nicht von anti-türkischen Gefühlen getrieben. Die Frage, die sich stellt, ist eine Frage an die Türkei: Will die Türkei – ja oder nein – alle Bedingungen erfüllen, die es zu erfüllen gilt, um ein Mitglied der Europäischen Union zu werden? Ich glaube, dass sich die Türkei diese Frage nicht stellt und deshalb nie eine Antwort formuliert hat.”

euronews:
Können Sie mit einem Präsidenten diskutieren, der mehr und mehr autoritär wird?

Juncker:
“Ich muss mit vielen Personen diskutieren – darunter auch Personen, deren Gesellschaft mir nicht sehr angenehm ist. Wir, die Europäische Union, haben Beziehungen zu abscheulichen Regimen. Die hinterfragt keiner. Man spricht berechtigterweise über die Türkei, doch man spricht nie über Saudi-Arabien. Wir haben Beziehungen zu allen Diktaturen, weil wir die Welt mitgestalten müssen. Mit der Türkei und ihrem Präsidenten treffe ich mich regelmäßig. Mit dem Präsidenten sind es manchmal sehr männliche Treffen. Ich kenne ihn seit 17, 18 Jahren. Ich kenne ihn, und er kennt mich.”

euronews:
Innerhalb Ihrer eigenen Kommission gibt es Konflikte. Ich denke da an Kommissar Günther Oettinger, dem Interessenkonflikte sowie rassistische, fremdenfeindliche und sexistische Äußerungen vorgeworfen werden. Doch Sie unterstützen ihn weiterhin, haben ihn sogar befördert. Das löst eine gewisse Empörung aus, nicht wahr?

Juncker:
“Na ja, nicht jede Empörung ist berechtigt. Ich befördere Kommissar Oettinger nicht, sondern ersetze eine Haushaltskommissarin, die die Kommission in Richtung Weltbank verlässt, mit einem Kommissar, der seit nunmehr sieben Jahren Mitglied der Kommission ist und die Geheimnisse des EU-Haushaltes kennt. Es gibt nur wenige Personen, die den Haushalt so genau kennen wie Kommissar Oettinger. Er hat in Hamburg eine Rede gehalten, in der er Worte und Formulierungen gewählt hat, die völlig fehl am Platze waren. Er hat sich auf mein Drängen hin bei denjenigen entschuldigt, die sich durch seine Äußerungen verletzt fühlten. Und einen Interesserenkonflikt sehe ich nicht: Es hat eine Ungeschicklichkeit gegeben, aber keinen Fehler.”

euronews:
Die Bestimmungen für Kommissare besagen, dass es untersagt ist, Geschenke mit einem Wert von über 150 Euro anzunehmen und dass Reisen mit Lobbyisten angegeben werden müssen.

Juncker:
“Es stimmt, dass die Kommissare keine Geschenke annehmen dürfen, wenn diese einen bestimmten Wert überschreiten. Und daran halten sie sich. Es stimmt, dass alle Kontakte zu Lobbyisten öffentlich gemacht werden müssen. Auch daran halten sich die Kommissare. Und die Tatsache, dass Herr Oettinger auf Vorschlag der ungarischen Regierung ein Flugzeug genommen hat, das von jemandem zur Verfügung gestellt wurde, der in gewisser Weise ein Lobbyist ist…”

euronews:
Sie verteidigen ihn also weiterhin…

Juncker:
“Nein, ich sage weiterhin, dass die Presse weniger boshaft sein sollte. Herr Oettinger hat am 19. Mai 2016 auf eine parlamentarische Anfrage zu dieser mittlerweile so kritisierten Reise geantwortet. Warum beschäftigt sich die internationale Presse Monate später mit dieser Sache? Als es passierte, haben Sie das nicht getan.”

euronews:
Weil Sie einige Monate gewartet haben, ehe sie antworteten.

Juncker:
“Das ist grotesk! Hören Sie, spielen Sie hier nicht die einseitige Journalistin. Es gab eine parlamentarische Anfrage, auf die Herr Oettinger am 19. Mai geantwortet hat. Und Sie kommen damit im November an, das ist lächerlich.”

euronews:
Gut, in Ordnung. Wir schließen mit einer Frage…

Juncker:
“Nein, es ist grotesk. Ich respektiere Sie und will Sie nicht lächerlich machen, doch das hier ist grotesk. Alles war im Mai einsehbar, doch man kommt darauf Monate später zurück…”

euronews:
Nicht um wieder in diese Streitfrage einzutauchen, sondern durch seine rassistischen und fremdenfeindlichen Äußerungen. Durch Herrn Oettingers Entgleisungen sind wir darauf zurückgekommen…

Juncker:
“Sehen Sie, alles wird in einen Topf geworfen. Wir haben den Verhaltenscodex der Kommission geändert, über den sehr wenig gesprochen wird. Ich habe vorgeschlagen – und zwar so, dass es auch umgesetzt wird – dass die Übergangsfrist für Kommissare auf zwei Jahre verlängert wird. Und ich habe aufgrund der Sache mit Barroso vorgeschlagen, dass dem Kommissionspräsidenten – und das ist normal – eine dreijährige Übergangsfrist auferlegt wird.”

euronews:
Genügt das? Drei Jahre?

Juncker:
“Drei Jahre sind 36 Monate.”

euronews:
Und zum Schluss: Zwei Jahre Ihrer Amtszeit sind um, es bleiben Ihnen drei Jahre. Was schlagen Sie vor, anders zu machen?

Juncker:
“Wir machen doch schon viele Dinge anders. Die Kommission, deren Vorsitzender zu sein ich die Ehre habe, hat zehn Prioritäten vorgestellt. Die Kommission konzentriert sich auf die großen Themen unserer Zeit und kümmert sich nicht mehr um die kleinen Probleme, die besser in den Staaten selbst, durch die Kommunen und Regionen, gelöst werden können. Wir wollen nicht auf fast obszöne Weise in den Alltag der europäischen Bürger eingreifen. Wir konzentrieren uns auf die großen Fragen: Das digitale Europa, die Energieunion, die Kapitalmarktunion und die europäische Verteidigungspolitik, so weit es in den Kompetenzbereich der Europäischen Kommission fällt. Bei den vielen Einzelheiten halten wir uns zurück und sind bei den großen Themen überaus präsent.”

Lebenslauf Jean-Claude Juncker

  • Geboren in Redingen, Luxemburg
  • 1974 wurde er Mitglied der Christlich Sozialen Volkspartei
  • Seit 2014 ist er Präsident der Europäischen Kommission
  • Zwischen 2004 und 2013 war er Vorsitzender der Eurogruppe
  • Von 1995 bis 2013 hatte er das Amt des luxemburgischen Ministerpräsidenten inne
Diesen Artikel teilenKommentare

Zum selben Thema

Europawahl: Wahlpflicht für 16-jährige in Belgien

Nach Wahlsieg in Niederlanden: Wilders verzichtet auf Amt des Premiers

Russland wählt: Doch hat Russland wirklich die Wahl?