Der europäische digitale Ozean-Zwilling wird eine Fülle von Meeresdaten frei zugänglich machen und damit Forschern, Politikern, Unternehmen und Bürgern ein Instrument zur nachhaltigen Nutzung des Ozeans an die Hand geben.
Künstliche Intelligenz und andere neue Technologien werden unser Meereswissen in den kommenden Jahren revolutionieren - das entscheidende Element dabei sind Daten, die gesammelt und verarbeitet werden müssen. In Italien arbeiten einige der vielen Wissenschaftler, die Daten sammeln, um einen digitalen Zwilling des Ozeans zu erstellen.
Unmittelbar vor der Adria-Küste, in der Nähe des Castello die Miramare in Triest, markieren leuchtend gelbe Bojen ein Küstenobservatorium, das Teil des italienischen Netzwerks für ökologische Langzeitforschung ist. Seit 1986 nehmen Wissenschaftler dort jeden Monat Wasserproben und führen verschiedene Messungen durch. So ist eine wissenschaftliche Datenreihe entstanden, die die Veränderungen der Küstenumwelt im Laufe der Jahre widerspiegelt.
"Wir führen chemische Analysen durch und messen Nährstoff- und Salzgehalt, Chlorophyll und biologische Parameter", erklärt Bruno Cataletto, Forscher für Meeresbiologie am nationalen Institut für Ozeanographie und angewandte Geophysik (OGS). "Wir nehmen Phytoplankton- und Mikrozooplanktonproben, die wir später im Labor analysieren."
Die Wissenschaftler veröffentlichen die gesammelten Daten in Online-Datenbanken und stellen sie der maritimen Industrie, wie z.B. der Fischerei, frei zur Verfügung. Einige dieser Datenbanken sind recht umfangreich und enthalten auch Berichte von Bürgerwissenschaftlern. Mit der kostenlosen Applikation avvistAPP kann man Sichtungen von Meereslebewesen wie Quallen, Delfinen, Meeresschildkröten und exotischen Arten wie der Blauen Krabbe melden.
"Wir validieren diese Beobachtungen", erklärt die Forscherin für Zooplankton-Ökologie vom OGS Valentina Tirelli. "Durch die Kombination von Bürgerdaten und der Überprüfung durch Forscher entstehen verlässliche Informationen. Diese frei zugänglichen Daten sind in der Datenbank EMODNet Biology verfügbar und können von jedermann kostenlos genutzt werden."
Das Europäische Meeresbeobachtungs- und Datennetzwerk EMODnet sammelt und teilt Daten aus ganz Europa. Die manuelle Bearbeitung von Proben, wie das Zählen von Plankton unter dem Mikroskop, wird jedoch immer schwieriger. Künstliche Intelligenz wird diesen Prozess erheblich beschleunigen und die Möglichkeiten von Meeresdatenbanken neu definieren.
Von der italienischen Adria geht es an die belgische Nordseeküste. In der Meeresstation Ostende setzen Forscher des Flanders Marine Institute bereits Digitalkameras und künstliche Intelligenz ein, um die Erkennung von Plankton zu beschleunigen. Was früher einen ganzen Tag Laborarbeit erforderte, dauert heute nur noch 30 Minuten.
Rune Lagaisse, Plankton-Ökologe am VLIZ Flanders Marine Institute erklärt: "Wir arbeiten mit KI-Modellen, die mit unseren spezifischen Bildern trainiert wurden und gelernt haben, all diese Arten zu erkennen. So können wir eine Probe in wenigen Minuten analysieren und erhalten eine vollständige Artenliste, was uns viel Zeit und Geld spart."
Statt monatlicher Proben können Meeresdaten nun rund um die Uhr digital erfasst werden. An Bord des belgischen Forschungsschiffs Simon Stevin treffen wir die Wissenschaftler, die das mit autonomen Unterwasserplattformen ermöglichen. Sie sind mit verschiedenen Sensoren ausgestattet. Klaas Deneudt leitet das von der EU geförderte Projekt DTO-BioFlow, das gemeinsame Standards entwickelt, um alle Arten von Daten in die riesigen Datenbanken von morgen einzuspeisen.
Ein Fernsignal löst eine Boje aus, wodurch wertvolle akustische Aufzeichnungen an die Oberfläche gelangen. Die Forscher sammeln diese Aufnahmen an verschiedenen Orten der belgischen Nordsee. Eine praktische Anwendung ist die Überwachung der Anwesenheit von Schweinswalen - Meeressäugern, die als Spitzenprädatoren im lokalen Ökosystem eine entscheidende Rolle spielen. Die Geräusche der Tiere sind für den Menschen nicht hörbar. Sie werden aber von KI-Algorithmen in den Aufnahmen erkannt, sodass die Forscher ihre Bewegungen über das ganze Jahr hinweg kartieren können.
"Im Winter sind sie am häufigsten. Im Sommer sind sie weniger präsent in den belgischen Gewässern", weiß Elisabeth Debusschere, Bioakustikerin am VLIZ Flanderns Meeresinstitut. "Das ist sehr interessant. Es könnte auch für die Offshore-Industrie interessant sein, um ihre Aktivitäten zu planen."
Der Prototyp des digitalen Zwilling des Ozeans steht
Bald sollen all diese kontinuierlichen Datenströme in einem Projekt zusammenlaufen - dem digitalen Zwilling des Ozeans. Dessen Kerninfrastruktur, die im Rahmen des von der EU geförderten Projekts EDITO-Infra entwickelt wurde, wurde kürzlich auf einer Veranstaltung in Brüssel vorgestellt.**
Alain Arnaud, der Leiter von Digital Ocean vom Mercator Ocean International: "Der digitale Zwilling des Ozeans ist ein digitales Abbild des Ozeans im Computer. Es ist ein Ort, an dem alle Informationen über den Ozean gesammelt und der Öffentlichkeit, Wissenschaftlern und Entscheidungsträgern zur Verfügung gestellt werden."
Durch die Integration verschiedener Datentypen kann dieses virtuelle Modell zu einem leistungsstarken Werkzeug für die Lösung komplexer Probleme werden. Simon van Gennip von Mercator Ocean International, einer gemeinnützigen Organisation (die in eine zwischenstaatliche Organisation umgewandelt werden soll), die an der Entwicklung des digitalen Zwillings beteiligt ist, zeigt, wie man ihn im Kampf gegen Plastikverschmutzung einsetzen kann.
"Seit den 1990er Jahren kennen wir alle Ozeanströmungen weltweit und für jeden Tag. Das ist ein Schatz, denn wir können virtuell Partikel dort aussetzen, wo wir glauben, dass sie von der Küste aus in den Ozean gelangen. Und dann können wir sagen, wohin dieses virtuelle Plastikteilchen am nächsten Tag von den Strömungen transportiert wird", erklärt der Forscher Simon van Gennip. "Wir können uns schließlich ein Bild davon machen, wie Plastik im Meer transportiert wird. Dabei hilft uns dieses Modell, denn wir haben davon keine Beobachtungen."
Eine weitere Anwendung konzentriert sich auf die Suche nach den effektivsten Methoden zur Wiederherstellung von Seegraswiesen. Kelli Johnson, wissenschaftliche Projektleiterin von Hereon: "Wir nutzen den digitalen Ozean-Zwilling, um Daten zu simulieren - wenn Seegraswiesen und -beete größer wären, wenn sie in bestimmten Tiefen gepflanzt würden, um zu sehen, welche Auswirkungen Seegraswiesen zum Beispiel auf die Widerstandsfähigkeit der Küsten haben könnten. Es gibt bereits sehr interessante Ergebnisse, dass sie diese Dinge beeinflussen. Es ist sehr wichtig für uns, das zu testen."
Wendepunkt für Entscheidungsträger
Der digitale Zwilling des Ozeans verspricht, ein entscheidender Wendepunkt für Politiker zu werden. Denn damit können verschiedene Szenarien der Meeresnutzung modelliert und deren Ergebnisse getestet werden, bevor Entscheidungen getroffen werden.
Kestutis Sadauskas, stellvertretender Generaldirektor für Maritime Angelegenheiten und Fischerei bei der Europäischen Kommission, fasst es zusammen: "Wie können wir das Meer nachhaltig nutzen? Wir brauchen die Fischerei, wir müssen Strom aus Meeresenergie erzeugen, wir müssen Schifffahrt betreiben, wir müssen Kabel verlegen. Wir wollen uns dort als Touristen vergnügen. Entscheidungen werden günstiger und treffsicherer, wenn wir sie vorher modellieren."
Von Unterwassersensoren über Satellitenbeobachtungen bis hin zu Bürgerberichten - all diese Daten werden im Digitalen Zwilling zusammengeführt.
Klaas Deneudt meint: "Wir wollen die große Ressource Ozean nachhaltig nutzen. Das können wir nur erreichen, wenn wir mit den verschiedenen Anrainerstaaten zusammenarbeiten und alle verfügbaren Daten zusammenführen und leicht zugänglich machen."
Der europäische digitale Ozean-Zwilling wird eine Fülle von Meeresdaten frei zugänglich machen und damit Forschern, Politikern, Unternehmen und Bürgern ein Instrument zur nachhaltigen Nutzung des Ozeans an die Hand geben.