Ungarn hat Krieg, Ausgrenzung und ausländische Besatzung überlebt. Kann es Viktor Orban überleben?

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, Mitte, kommt zu einem Treffen der Europäischen Volkspartei in Brüssel, 20.03.2019
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, Mitte, kommt zu einem Treffen der Europäischen Volkspartei in Brüssel, 20.03.2019 Copyright Francisco Seco/Copyright 2019 The Associated Press. All rights reserved.
Von Orlando Crowcroft
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Der Historiker und Journalist Paul Lendvai erlebte die Nazi-Besatzung Ungarns und wurde Zeuge der brutalen Niederschlagung der Revolution von 1956 durch die Sowjetunion. Jetzt warnt er, dass Orban der nächste Alexander Lukaschenko oder Wladimir Putin werden könnte.

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Der in Ungarn geborene österreichische Journalist Paul Lendvai saß am 16. Juni 1989 in einem Fernsehstudio in Wien und kommentierte live die Umbettung von Imre Nagy, der nach dem Scheitern der Revolution von 1956 von Ungarns sowjetischer Regierung hingerichtet und in einem ungekennzeichneten Grab beigesetzt wurde.

Wie 180.000 andere Ungarn war Lendvai nach der gescheiterten Revolution aus seinem Land nach Österreich geflohen und arbeitete als Journalist und Autor in Wien, wo er über die epochalen Veränderungen in seinem Land schrieb und analysierte, während in Europa die kommunistischen Regime zusammenbrachen.

Nagy war ein Reformer gewesen, der als Ministerpräsident Moskau mit demokratischen Reformen und der Auflösung der verhassten ungarischen Geheimpolizei verärgert hatte. Am 1. November 1956 trat er mit Ungarn aus dem Warschauer Pakt aus. Drei Tage später rückten sowjetische Panzer in Budapest ein und schlugen die Revolution auf Befehl des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow nieder.

Bis zu 200.000 Ungarn nahmen an der Umbettung in Budapest teil und lauschten den Reden der antikommunistischen Aktivisten auf dem Heldenplatz. Während Lendvai im Fernsehen zusah, betrat ein unbekannter 26-jähriger Aktivist die Bühne und hielt eine sechseinhalbminütige Rede, in der er den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, nationale Unabhängigkeit und Freiheit forderte.

Sein Name war Viktor Orban.

"Ein mutiger Schritt"

32 Jahre später und im Rückblick betrachtet, weist Lendvai die These zurück, dass er eine Ahnung davon hatte, was aus Orban werden würde.

"Ich meine, es war die Rede eines jungen Mannes. Man sollte es nicht übertreiben und dramatisieren", sagte er gegenüber Euronews. "[Aber] es war ein mutiger Schritt, und klug."

Orbans Weg vom liberalen Antikommunisten zum nationalistischen Ideologen, Putin-Freund und, wie seine Kritiker behaupten, Autokraten war ein kalkulierter, wie Lendvai in seinem 2017 erschienenen Buch Orban: Europe's New Strongman schreibt.

Orbans Fidesz-Partei begann als pro-europäische Mitte-Rechts-Partei und schwenkte dann zum Rechtspopulismus um, da ihr führender Kopf dort die besten Erfolgsaussichten witterte.

Fidesz dominiert die ungarische Politik seit 2010 und sicherte sich sowohl 2014 als auch 2018 eine riesige parlamentarische Mehrheit, die es Orban ermöglichten, Verfassungsreformen durchzuführen und seine persönliche Macht massiv auszubauen. Währenddessen sind die 12 Europaabgeordneten der Fidesz und Orbans unverhohlener Euroskeptizismus dem Europäischen Parlament ein ständiger Dorn im Auge.

Am 3. März 2021 trat Orban aus Protest gegen angekündigte Änderungen der Geschäftsordnung aus der Europäischen Volkspartei (EVP) aus. Diese hätten es den Abgeordneten ermöglicht, weitere Sanktionen gegen den Fidesz wegen der Aushöhlung der Demokratie unter seiner Führung in Ungarn zu verhängen. Die Unbeliebtheit von Fidesz selbst unter Europas Mitte-Rechts-Parteien zeigte sich darin, dass 82 Prozent der EVP-Abgeordneten für die neuen Regelungen stimmten.

Lendvai sieht sich durch den Konsens gegen Orban innerhalb der EVP bestärkt, befürchtet aber, dass Fidesz die gemäßigte EVP schnell durch ein engeres Bündnis mit der extremen Rechten des Europäischen Parlaments ersetzen wird. Am 4. März sagte Jörg Meuthen, der Chef der rechten Alternative für Deutschland (AfD), dass Fidesz in seiner Fraktion "Identität und Demokratie" (ID) in Brüssel willkommen wäre.

"Es ist natürlich zu spät. Es wäre besser gewesen, wenn die Konservativen das früher getan hätten. Aber besser spät als nie", sagte er.

Was Orbans Entscheidung betrifft, sich aus der EVP zurückzuziehen, bevor die geänderte Geschäftsordnung in Kraft tritt, und so der weiteren Sanktionierung durch die Fraktion zu entgehen, erklärt Lendvai, dass das der Strategie des ungarischen Ministerpräsidenten von den frühesten Tagen seines politischen Lebens an entspreche.

"Er ist ein Kämpfer. Er greift eher an, als dass er verteidigt", sagte er.

Der 1929 geborene Lendvai überlebte den Zweiten Weltkrieg, als 600.000 ungarische Juden unter dem mit den Nazis verbündeten Regime von Miklos Horthy deportiert und ermordet wurden. Er erlebte aus erster Hand das Abrutschen des Landes in die sowjetische Diktatur nach der Befreiung durch die Rote Armee 1945.

Während Lendvais Leben wurde Ungarn von mehreren Autokraten regiert: von Horthy bis zu den kommunistischen Spitzenpolitikern Mátyás Rákosi und János Kádár. Zwischen 1989 und 1991 ging das Land zur Demokratie über, und nur sieben Jahre später wurde Orban erstmals zum Ministerpräsidenten gewählt.

Orban: Immer mal wieder am Zug

2002 verlor Orban die Macht an eine liberale Koalition, aber seine Zeit in der Opposition stärkte ihn nur. Gebeutelt von der Finanzkrise und schockiert vom spektakulären Fall des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány 2009, brachten die ungarischen Wähler Orban und den Fidesz 2010 zurück an die Macht und gab ihr 2014 und 2018 eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament.

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Diese Mehrheit hat den Fidesz zur alleinigen Herrscherin der ungarischen Politik gemacht, wobei Orban, der 57 Jahre alt ist, offen zugibt, dass er 15 Jahre oder länger an der Macht bleiben könnte. Ungarns Opposition bekam 2019 Auftrieb, als ein Oppositionskandidat, Gergely Karacsony, gegen den Fidesz-Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von Budapest gewann. Aber solche Niederlagen sind selten.

Ungarns nächste Wahl steht 2022 an und trotz der jüngsten Ankündigung von sechs Oppositionsparteien, dass sie sich zusammenschließen werden, um zu versuchen, Fidesz bei den Wahlen zu schlagen, ist Lendvai skeptisch, dass ihr das gelingt. Sollte die Europäische Union Sanktionen gegen Budapest verhängen, ist es unwahrscheinlich, dass diese vor den Wahlen Wirkung zeigen.

Und selbst wenn sich die Mehrheit der EU-Länder dafür entscheiden würde, wegen Orbans antidemokratischer Reformen Sanktionen gegen Ungarn zu verhängen, müssten diese einstimmig von allen EU-Staaten beschlossen werden. Polen, das von der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regiert wird, würde fast sicher dagegen stimmen.

"Die Wahlen von 2022 werden ein Test sein, aber die Aussichten sind nicht so gut [...]. Ich will nichts ausschließen, aber man muss im Hinterkopf behalten, dass [Orban] ein Mann ist, der 58 Jahre alt ist und im Vergleich zu Biden und solchen Leuten, könnte er noch 20 Jahre an der Macht bleiben", sagte er.

Lendvais neuestes Buch, Die Ungarn: Eine tausendjährige Geschichte wurde ursprünglich in den 1990er Jahren geschrieben und dokumentiert die ungarische Geschichte vom Mittelalter bis zum Ende des Kommunismus. Sie erzählt vom Überleben Ungarns als Nationalstaat trotz kultureller und sprachlicher Isolation und jahrhundertelanger Besatzung durch die Osmanen, Habsburger, Nazis und die Sowjetunion.

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Das Buch wurde 2021 mit zwei Kapiteln neu aufgelegt, die die letzten 30 Jahre und den Abstieg vom jungen demokratischen Staat zur derzeitigen Situation behandeln. Bei seiner Erstveröffentlichung schlug Lendvai noch einen optimistischen Ton an. Ein Optimismus, den er zwei Jahrzehnte später nicht mehr nachempfinden kann.

"Es ist eine düstere Zeit. Wahrscheinlich werden das Land und die Nation überleben, aber ich weiß nicht, wie und zu welchem Preis", sagte er.

Während Orban Europa oft mit seinen Äußerungen über eine illiberale Demokratie, der Billigung von Diktatoren und Autokraten oder seinen dreisten Schritten gegen demokratische Normen in Ungarn schockiert, warnt Lendvai, dass das Schlimmste noch bevorstehen könnte. Wenn Orban befürchtet, dass er und seine Anhänger die Macht verlieren könnten, wird er am härtesten zurückschlagen.

"Bis jetzt war es ein Regime mit Handschuhen. Wenn es um sein persönliches Überleben, seine Freunde und seine Vertrauten geht [...], wird er die Handschuhe ausziehen. Auf die gleiche Weise wie Lukaschenko oder Putin", sagte Lendvai.

Im Moment bedeutet die fast totale Dominanz von Fidesz in den ungarischen Medien, dass es wenig gibt, das Orbans Narrativ in Frage stellt. Lendvai verweist auf den polnischen Dichter Adam Wazyk, der 1955 in seinem "Gedicht für Erwachsene" über das Leben im stalinistischen Polen schrieb: "Sie trinken weinend Meerwasser: Limonade! Sie kehren heimlich nach Hause zurück, um sich zu übergeben."

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"Das ist die Situation. Sie basiert auf einer Lüge", sagte er, "es ist eine sehr schlechte Epoche, eine finstere, düstere Periode in der ungarischen Geschichte."

Orbans Büro antwortet

In einer Erklärung an Euronews sagte ein Sprecher von Orban: "Unter den Gegnern von Ministerpräsident Orban gibt es eine spezielle Gruppe am extremen Ende des Spektrums, die eine irrationale Angst und Verachtung hegt. Paul Lendvai und viele seiner Mitstreiter sehen ihn oft als Konkurrenz. Was wir sehen, ist reine Orbanophobie und ein Unterbietungswettlauf."

"Herr Lendvai ist berüchtigt geworden für seine Polemik gegen Orban, wobei er sich schwer tut, seine sensationellen Behauptungen mit Fakten zu untermauern und absichtlich wichtige Details auslässt."

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