Wie Moskaus Krieg in der Ukraine in Finnland alles veränderte

Menschen laufen durch die Straßen von Helsinki um gegen den Krieg Russlands in der Ukraine zu protestierten, Sonntag, 5. März 2022
Menschen laufen durch die Straßen von Helsinki um gegen den Krieg Russlands in der Ukraine zu protestierten, Sonntag, 5. März 2022 Copyright Mikko Stig/Lehtikuva/AP
Von David Mac Dougall
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Schon lange ist Finnland in Habachtstellung was den großen Nachbarn im Osten angeht. Dann kam Moskaus Invasion in der Ukraine.

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Ein altes finnisches Sprichwort besagt, "Ein Russe ist ein Russe, auch wenn man ihn in Butter brät".

Zwar haben führende Politiker davor gewarnt, einzelne Russen für den Einmarsch Moskaus in der Ukraine verantwortlich zu machen, doch dieser Satz - der suggeriert, alles außer Russen schmecke besser schmeckt, wenn man es in Butter brät - bringt die tief verwurzelte Skepsis in der nationalen Psyche auf Punkt, wenn es um die Haltung gegenüber dem großen östlichen Nachbarland geht.

Mit einer 1.300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze - der längsten in der Europäischen Union -, zweihundert Jahren Kolonialgeschichte und zwei blutigen Kriegen im 20. Jahrhundert (ganz zu schweigen von einigen Jahrzehnten der Finnlandisierung, in denen der Kreml bei allen wichtigen politischen Entscheidungen das letzte Wort hatte), hat man in Finnland das Gefühl, ein oder zwei Dinge über den Umgang mit Russland zu wissen.

Doch selbst die klugen Finnen wurden von schnellen Entwicklungen seit dem 24. Februar, als Russland in die Ukraine einmarschierte, überrascht.

In nur zwei Wochen haben sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in dem nordischen Land extrem verändert. Und die Frage eines NATO-Beitrittsantrags, die in der öffentlichen Debatte lange Zeit in den Hintergrund gedrängt worden war, ist zum Hauptthema des politischen Diskurses von Hanko im Süden bis Utsjoki im Norden und vielen Orten dazwischen geworden.

Alle Karten (oder Katzen?) auf dem Tisch?

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Archivbild des finnischen Parlaments Eduskunta in Helsinki: Die Entscheidung, Waffen an die Ukraine zu liefern, zeigt, wie sehr sich das Denken verändert hat seit der InvasionAP Photo

Das Thema wird auf jeden Fall ausgiebig diskutiert - oder, um eine andere finnische Redewendung zu verwenden, die Katze wurde auf den Tisch gelegt.

"Ich denke, in den letzten Wochen hat sich alles verändert. Die Europäische Union hat sich sehr verändert. Und die Diskussion hat sich völlig verändert. Und es ist verständlich, wenn die Menschen große Angst haben", sagt Jussi Saramo, der stellvertretende Vorsitzende der finnischen Partei Linksallianz, eine der fünf Parteien, die die Regierungskoalition bilden.

Angesichts des russischen Einmarsches wird die Linksallianz eine interne Debatte über eine Überarbeitung und Aktualisierung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik einleiten - vielleicht sogar eine positivere Haltung gegenüber der NATO. Das wäre noch vor einem Monat undenkbar gewesen.

Eine erste unsichtbare politische Linie war schon überschritten, als die Regierung die Ausfuhr von Angriffswaffen in die Ukraine genehmigte. Diese sollten gegen Russland eingesetzt werden. Der finnische Vorsatz, den Bären nicht zu provozieren, wurde gründlich über Bord geworfen.

Die meisten Politiker sind in der NATO-Frage immer noch zurückhaltend

Die sicherheitspolitische Entwicklung Finnlands lässt sich in die Zeit vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine, als nur zwei Parteien im Parlament einen NATO-Beitritt befürworteten, und in die Zeit nach dem Einmarsch unterteilen, in der alle finnischen Parteien aktiv über einen Beitritt zum Militärbündnis debattieren und eine Reihe von Abgeordneten offen ihre Meinung zugunsten eines Beitritts geändert haben.

Wladimir Putins Rhetorik vor der Invasion drohte Finnland mit politischen und militärischen Konsequenzen für den Fall, dass es der NATO entgegenkäme: Wenn Putin damit jegliche Debatte zu dem Thema zu ersticken versuchte, hat er sich gründlich verkalkuliert.

Aber die Sache ist nicht so eindeutig: Bei einer Umfrage des öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders Yle unter allen 200 finnischen Abgeordneten in dieser Woche, dazu ob Finnland der NATO beitreten sollte, antworteten 58 mit "Ja". Nur 9 antworteten direkt mit "Nein", während 15 mit "Vielleicht" antworteten und 118 überhaupt nicht antworteten. Das deutet darauf hin, dass viele Abgeordnete momentan keine Position zu dem Thema haben.

Auch wenn zwei kürzlich durchgeführte Meinungsumfragen ergaben, dass etwa 50 % der Finnen den Nato-Beitritt befürworten, warten einige Abgeordnete wahrscheinlich ab, um zu sehen, ob sich die öffentliche Meinung nachhaltig ändert. Die Unterstützung heute ist höher als je zuvor.

Jussi Saramo sagt, er sei beeindruckt von der Art und Weise, wie Präsident Niinistö, der in der Außenpolitik außerhalb der EU führend ist, während der Ukraine-Krise mit den Vorsitzenden aller Parteien im Parlament und nicht nur mit denen der Regierung zusammengearbeitet hat, um einen Konsens zu finden.

"Ich denke, das ist eine sehr finnische Art, dieses Thema anzugehen", so der südfinnische Abgeordnete gegenüber Euronews.

"Unsere Botschaft ist, dass alle ruhig bleiben sollten. Es ist ja nicht so, dass Putin morgen Finnland angreift, er hat im Moment eine Menge Probleme in der Ukraine. Wir haben also Zeit, die Situation zu analysieren und ohne Panik zu arbeiten. Auch wenn es den Anschein hat, dass einige Parteien und Medien die Menschen grundlos in Panik versetzen."

Vesa-Matti Värää
Immer mehr Menschen in Finnland sind für einen Beitritt des Landes zur NATO. Eine Mitarbeiterin wischt einen Tisch bei Hesburger.Vesa-Matti Värää

Verbraucher drängen Großhändler zum Rückzug aus dem russischen Markt

Nicht nur die sicherheitspolitische Position Finnlands hat sich schnell entwickelt hat. Man diskutiert auch über finnische Unternehmen, die mit Russland Geschäfte machen.

Obwohl nur 4 % des finnischen Exporthandels mit Russland abgewickelt werden und der Handel während der COVID-Pandemie eingebrochen ist, schätzt die Handelskammer Helsinki, dass 90 % der finnischen Unternehmen in irgendeiner Weise von Sanktionen und Desinvestitionen in Russland betroffen sein werden. In Anbetracht der gemeinsamen Grenze und der unzähligen persönlichen Kontakte zwischen den beiden Ländern ist es vielleicht keine Überraschung, wie stark die Auswirkungen zu spüren sind.

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In den vergangenen zwei Wochen wurden in schwindelerregender Geschwindigkeit russische Produkte aus den Regalen finnischer Supermärkte geräumt; russischer Wodka ist aus den staatlichen Alko-Läden verschwunden; finnische Unternehmen haben angekündigt, keine russischen Rohstoffe mehr für ihre Produkte zu verwenden, keine aus Russland importierten Konsumgüter mehr zu verkaufen und ihre eigenen Produkte nicht mehr auf russischen Märkten anzubieten.

Sogar die Lebensmittelkette Lidl, die demnächst eine Werbeaktion für Lebensmittel aus Osteuropa durchführt, will keine "russischen" Produkte mehr verkaufen - auch wenn diese gar nicht in Russland hergestellt werden.

S-Group
S-Group Supermarkt in Sankt Petersburg RusslandS-Group

Eine der beiden großen finnischen Einzelhandelsketten, die S-Group - mit einem Jahresumsatz von mehr als 10 Milliarden Euro - schließt und verkauft mehr als ein Dutzend Supermärkte in Russland. Zudem versucht die Gruppe für ihre beiden Hotels der Marke Sokos in St. Petersburg Käufer zu finden.

Unternehmen, die nicht schnell genug gehandelt haben, wie z. B. die Fast-Food-Kette Hesburger, spüren die Gegenreaktion der Öffentlichkeit - "wie wenn man einem ären in den Hintern schießt", wie die Finnen sagen würden. Das Unternehmen kündigte zunächst an, seine 44 Restaurants in Russland und Weißrussland offen zu halten und die Filialen in der Ukraine zu schließen, musste aber innerhalb weniger Stunden nach einem öffentlichen Aufschrei einen Rückzieher machen.

Auch die beliebte finnische Süßwaren- und Bäckereimarke Fazer hat nach eigenen Angaben zu langsam auf die Ereignisse reagiert. Als man entschied, russische Geschäftsinteressen aufzugeben, zirkulierten im Netz bereits Bilder den bekannten Schokoladenriegels - blutbeschmiert.

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"Ich denke, die Reaktion in den sozialen Medien war sehr heftig. Die Verbraucher haben heftig reagiert. Und da wir sehr viele finnische Konsumgüterunternehmen in Russland haben, mussten sie sofort abreisen oder zumindest etwas über ihre Abreise veröffentlichen", erklärt Pia Pakarinen, Geschäftsführerin der Handelskammer Helsinki.

Auch das finnische Arbeitsmarktideal wurde innerhalb weniger Wochen auf den Kopf gestellt: Normalerweise sind die Rechte der Arbeitnehmer:innen für finnische Unternehmen ein wichtiges Kriterium bei Geschäftsentscheidungen. Doch angesichts eines fast sofortigen Ausstiegs aus dem russischen Markt ist das nicht mehr der Fall.

"Normalerweise ist die Öffentlichkeit gegen Entlassungen, wenn man sich um ihr Wohlergehen sorgt, wäre das ein gutes Zeichen. Aber in diesem Fall bedeutet das gar nichts", sagt Pakarinen, ein ehemaliger stellvertretender Bürgermeister von Helsinki von der Nationalen Koalitionspartei.

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Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin und ihre schwedische Amtskollegin Magdalena Andersson in Helsinki, 5. März 2022AP Photo

Schutz der russischen Bevölkerung in Finnland

Ein Erbe der langen gemeinsamen Geschichte Finnlands mit Russland und ein Produkt der Geografie sind die Zehntausende von Russ:innen, die in Finnland leben, und Tausende weitere Finn:innen, die Russisch als Muttersprache sprechen.

Führenden Politiker:innen des Landes und sogar seine Sicherheitsdienste haben sich nachdrücklich dafür eingesetzt, die Sicherheit dieser Menschen zu gewährleisten.

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"In Finnland ist kein Platz für jegliche Art von Gewalt oder Vandalismus gegen normale Menschen, unabhängig davon, wo sie sich aufhalten oder welche Sprache sie sprechen", sagte Ministerpräsidentin Sanna Marin Anfang März zwischen einer Reihe von diplomatischen Treffen mit ihren Amtskolleg:innen aus Schweden und Estland. Auch ihre Minister:innen sind zu Gesprächen mit ihren nordischen und baltischen Amtskolleg:innen durch die Region gependelt.

Niemand ist für die Situation in der Ukraine verantwortlich, nur weil er eine andere Herkunft oder Sprache hat

In einem seltenen Akt politischer Einigkeit haben die finnischen Parlamentsparteien eine Erklärung zur Unterstützung der russischstämmigen Bevölkerung abgegeben, in der sie dazu aufriefen, diese "wegen des vom Kreml angezettelten Krieges" nicht zu diskriminieren oder zu belästigen.

"Niemand ist für die Situation in der Ukraine verantwortlich, nur weil er eine andere Herkunft oder Sprache hat", so die Parteien.

Für ein Land, das in vielerlei Hinsicht oft ziemlich festgefahren ist, haben die Finn:innen in den letzten vierzehn Tagen einen beispiellosen Wandel in Bezug auf Russland erlebt.

All diese Veränderungen haben ihren Preis: Sei es die Entfernung einer Friedensstatue aus der Sowjetzeit in einem Park in Helsinki, die Auswirkungen der Handelssanktionen auf zahlreiche Unternehmen, die Streichung von Finnair-Flügen, weil sie Russland nicht mehr überfliegen können, um ihre wichtigsten asiatischen Märkte zu erreichen, oder die politischen und kulturellen Umwälzungen im Zusammenhang mit Sicherheit und NATO.

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Aber es scheint, dass Finnland bisher mit dieser Entwicklung und dem hohen Preis, den es zahlen muss, weitgehend einverstanden ist.

Oder, um eine andere finnische Redewendung zu verwenden: Sie sind bereit, den Preis für Erdbeeren zu zahlen.

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