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Berliner Zweifel, Gazas Hunger: Zerreißprobe für die deutsche Außenpolitik

Palästinenser kämpfen um gespendete Lebensmittel in einer Gemeinschaftsküche in Gaza-Stadt, 26. Juli 2025
Palästinenser kämpfen um gespendete Lebensmittel in einer Gemeinschaftsküche in Gaza-Stadt, 26. Juli 2025 Copyright  Abdel Kareem Hana/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.
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Von Johanna Urbancik
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Signalisiert Merz' Entscheidung, die Menschen in Gaza mit einer Luftbrücke zu unterstützen, einen Wandel in der deutschen Nahostpolitik?

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Bundeskanzler Friedrich Merz hat vor kurzem das Einrichten einer Luftbrücke nach Gaza in Kooperation mit Jordanien verkündet. Auf diesem Weg sollen Hilfsgüter an die Bevölkerung gelangen, die Hilfsorganisationen und Experten zufolge an einer Hungersnot leiden.

Die Lieferungen können Merz zufolge lediglich "eine kleine Hilfe" sein.

Könnte dieser Schritt der Beginn einer möglichen Veränderung in der deutschen Nahost-Politik signalisieren?

Humanitäre Hilfe wird am Montag, dem 28. Juli 2025, über Gaza-Stadt im Gazastreifen an die Palästinenser abgeworfen
Humanitäre Hilfe wird am Montag, dem 28. Juli 2025, über Gaza-Stadt im Gazastreifen an die Palästinenser abgeworfen Jehad Alshrafi/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.

Erst vergangene Woche haben 130 Diplomaten aus dem Auswärtigen Amt dem Spiegel zufolge unter dem Motto "loyal nonkonform" eine kritischere Haltung der Bundesregierung gegenüber der israelischen Regierung wegen der humanitären Lage in Gaza gefordert.

Ein Ministeriumssprecher bestätigte die Existenz der Gruppe und gab gegenüber Medien an, dass ein Treffen mit Außenminister Johann Wadephul (CDU) geplant sei. Bislang ist unklar, ob und wann das Treffen stattfindet.

Deutschlands Vergangenheit, insbesondere die Verantwortung für den Holocaust, prägt bis heute maßgeblich die Außenpolitik des Landes. Dieses dunkle Kapitel in der deutschen Geschichte hat tiefe Spuren hinterlassen, die sowohl die Gesellschaft, als auch politische Entscheidungen beeinflussen.

In seiner Regierungsrede vom vergangenen Monat bekräftigte Merz, dass "unsere Staatsräson die Verteidigung des Staates Israel in seiner Existenz ist".

Wenn deutsche Bundeskanzler das Existenzrecht Israels und die engen Beziehungen zu Israel zur deutschen Staatsräson erklären, meinen sie damit, dass diese Haltung nicht verhandelbar ist, sie gehört also zum Selbstverständnis der Bundesrepublik.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verknüpfte diesen Anspruch mit der historischen Verantwortung Deutschlands für die Shoah und stellte die Sicherheit Israels damit auf eine Ebene mit den zentralen Grundwerten deutscher Politik.

Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem über 1.200 Menschen in Israel brutal getötet, verletzt, verschleppt oder vergewaltigt wurden, hält die Gewalt an. Insgesamt wurden 251 Menschen von der Hamas und anderen Terrorgruppen in den Gazastreifen entführt.

Berichten zufolge sollen noch 50 Geiseln in Gaza festgehalten werden, 20 davon sollen noch am Leben sein. 

Der Ort eines Musikfestivals nahe der Grenze zum Gazastreifen im Süden Israels, 12. Oktober 2023, nach dem Angriff der Hamas
Der Ort eines Musikfestivals nahe der Grenze zum Gazastreifen im Süden Israels, 12. Oktober 2023, nach dem Angriff der Hamas Ohad Zwigenberg/Copyright 2023 The AP. All rights reserved.

Nach dem Anschlag vom 7. Oktober hat Israel Gaza angegriffen, mit dem Ziel, die Hamas komplett zu zerstören.

In seiner ersten Rede nach dem Terrorangriff sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dass die israelischen Streitkräfte "unverzüglich ihre gesamte Kraft einsetzen werden, um die Fähigkeiten der Hamas zu zerstören. Wir werden sie vernichten und diesen dunklen Tag, den sie dem Staat Israel und seinen Bürgern aufgezwungen haben, mit aller Macht rächen. Alle Orte, an denen die Hamas stationiert ist, sich versteckt und operiert, diese böse Stadt, werden wir in Schutt und Asche legen. Ich sage den Bewohnern von Gaza: Verlasst jetzt die Stadt, denn wir werden überall mit aller Härte vorgehen."

Seitdem sind laut dem von der Hamas-geleiteten Gesundheitsministerium rund 60.000 Palästinenser getötet worden. Der Großteil des Gazastreifens ist in Schutt und Asche gelegt worden. Tausende haben Familienangehörige, Habseligkeiten und Häuser verloren und leben derzeit in improvisierten Zeltstädten ohne Zugang zu regelmäßiger Nahrung.

Abdul trauert um seinen Onkel, der bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, 26. Juli 2025
Abdul trauert um seinen Onkel, der bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, 26. Juli 2025 Abdel Kareem Hana/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.

Israels Kriegsführung in Gaza hat seitdem für eine weltweite Polarisierung in den Regierungen und in der Bevölkerung auf den Straßen europäischer Städte gesorgt.

Die EU fordert Israel auf, den Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts "uneingeschränkt nachzukommen", sowie einen sofortigen Waffenstillstand und die bedingungslose Freilassung aller Geiseln aus dem Gazastreifen.

Diesbezüglich hat die EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten vorgestellt, darunter auch, Israel teilweise vom Forschungsprogramm "Horizon Europe" auszuschließen.

Dieser scheiterte an einer fehlenden Mehrheit, da Deutschland und Italien den Vorschlag "weiter prüfen wollen" und den Dialog mit Israel suchen.

Gegenüber Euronews äußerte sich ein Teilnehmer des Treffens, dass dieser Dialog jedoch nicht funktioniere. Ein weiterer Diplomat räumte ein, dass Deutschland, das sich gegen jegliche Sanktionen gegen Israel gewehrt hat, nun "die Karten in der Hand" hat.

Unstimmigkeiten in der schwarz-roten Koalition?

Gegenüber Euronews beteuerte der Außenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt, dass "die gesamte Bundesregierung die Zahl der Freunde Israels in der Welt erhöhen will. Das ist gelebte Staatsraison".

Er räumte jedoch ein, dass das Bild Israels in der Welt in letzter Zeit massiv gelitten habe.

"Das ist auch auf Fehler der israelischen Regierung zurückzuführen, die dem Propagandafeldzug der Hamas zu wenige positive Bilder entgegensetze. Das Sterben und Leid in Gaza war von Anfang an von der Hamas-Führung als Fanal gegen Israel gewollt, wie sie auch die aktuellen Verhandlungen nicht ernsthaft führt. Die anhaltende Siedlergewalt im Westjordanland trug dazu bei, Israel international immer stärker in eine defensive Rolle zu drängen", erklärt er in einem schriftlichen Statement gegenüber Euronews.

Die jüngst veröffentlichten Aufnahmen hungernder Menschen in Gaza haben auch für Reaktionen aus der deutschen Regierung gesorgt.

So schrieb der SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Matthias Miersch in einem Beitrag auf Instagram, dass das humanitäre Leid in Gaza erschütternd sei.  

"Verhungernde Kinder, zerstörte Infrastruktur, Angriffe auf Hilfesuchende - das widerspricht allem, was das humanitäre Völkerrecht schützt. Für mich als Jurist ist klar: Menschenrechte sind unteilbar, egal, wo auf der Welt. Zivilisten dürfen niemals militärische Ziele sein", so Miersch.

Laut einem vor kurzem veröffentlichtem Bericht von dem "Integrated Food Security Phase Classification" (IPC) sind in Gaza zwei von drei Schwellenwerten für eine Hungersnot erreicht. Eine Hungersnot wurde jedoch noch nicht ausgerufen, da das dritte Kriterium, Todesfälle aufgrund von Unterernährung, bislang nicht nachgewiesen werden könne.

Palästinenser kämpfen um gespendete Lebensmittel in einer Gemeinschaftsküche in Gaza-Stadt, 26. Juli 2025
Palästinenser kämpfen um gespendete Lebensmittel in einer Gemeinschaftsküche in Gaza-Stadt, 26. Juli 2025 Abdel Kareem Hana/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.

Es gebe dem Bericht zufolge immer mehr Hinweise darauf, dass "weit verbreitete Hungersnot, Unterernährung und Krankheiten" zu einem Anstieg der Todesfälle aufgrund von Hunger führen, was das dritte Kriterium für eine Hungersnot darstellt.

Miersch fügte in seinem Statement hinzu, dass es richtig sei, dass 28 Staaten ein klares Signal gesetzt haben: Sie fordern ein sofortiges Ende des Kriegs in Gaza und unbedingte humanitäre Hilfe. Deutschland sollte sich der Initiative Großbritanniens anschließen und hier nicht ausscheren, so Miersch.

Er betonte dennoch die "besondere Verantwortung, die Deutschland für die Sicherheit Israels und das Existenzrecht des jüdischen Staates habe", plädierte aber für die Einhaltung des Völkerrechts, den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung und forderte die Freilassung der Geiseln.

Eine Änderung in der deutschen Nahost-Politik?

"Der Diskurs innerhalb der Koalition wie der CDU ist transparent und von gemeinsamer Sorge um Israels Sicherheit, um das Schicksal der Geiseln und um die humanitäre Lage vor Ort geprägt", erklärt der Außenpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt und beteuerte, dass "Kanzler und Außenminister die Rückendeckung der Koalition haben". 

Laut einer Forsa-Umfrage, die vom Stern in Auftrag gegeben wurde, sprechen sich 74 Prozent der Deutschen für mehr politischen Druck auf Israel aus, darunter große Mehrheiten bei den Wählern der Linken (94 Prozent), Grünen (88 Prozent), CDU/CSU und SPD (jeweils 77 Prozent) sowie auch 61 Prozent der AfD-Anhänger.

Um seinen Teil zu der Linderung der humanitären Situation in Gaza beizutragen, kündigte Merz eine Luftbrücke an. "Israel muss die katastrophale humanitäre Situation in Gaza sofort, umfassend und nachhaltig verbessern", begründete Merz.

Ein Junge trägt einen Sack mit Hilfsgütern, der nach einem Luftabwurf über dem Zentrum von Gaza im Mittelmeer gelandet ist, 29. Juli 2025
Ein Junge trägt einen Sack mit Hilfsgütern, der nach einem Luftabwurf über dem Zentrum von Gaza im Mittelmeer gelandet ist, 29. Juli 2025 Abdel Kareem Hana/Copyright 2025 The AP. All rights reserved.

Für viele ist diese Ankündigung jedoch lediglich ein Tropfen auf heißem Stein.

So erklärt der Violinist und Konzertmeister des West-Eastern Divan Orchestra Michael Barenboim gegenüber Euronews, dass "Israel einen Völkermord an den Palästinensern und Palästinenserinnen in Gaza verübt und dies mit Unterstützung Deutschlands tut." 

Zwar gebe es Wortmeldungen, die das "Leid der Zivilbevölkerung" beklagen, so Barenboim, doch würden diese "nicht klar den Täter (Israel) benennen" und bleiben ihm zufolge so "vollkommen folgenlos". "So lange das so bleibt, ändert sich im Wesentlichen nichts", meint Barenboim.

Experten und Organisationen sind sich bei dem Begriff "Völkermord" in diesem Kontext jedoch uneins.

Der Historiker Michael Wolffsohn kritisierte beim Kirchentag in Hannover dieses Jahres, den Krieg in Gaza einen Völkermord zu nennen, und so mit dem Holocaust gleichzusetzen.

Er betonte, dass Israels Vorgehen sich klar vom nationalsozialistischen Völkermord unterscheide, und warb zugleich um Verständnis und Empathie für die Bedrohung jüdischen Lebens – auch in Deutschland.

"Our Genocide", ein Bericht von B'Tselem, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten
"Our Genocide", ein Bericht von B'Tselem, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten Maya Alleruzzo/Copyright 2025 The AP. All rights reserved

In Israel haben neben internationalen Experten und Organisationen erstmals die israelischen Menschenrechtsorganisationen B'Tselem und Physicians for Human Rights Israel in einem vor kurzem veröffentlichten Bericht einen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen vorgeworfen. 

Israel habe über fast zwei Jahre hinweg gezielt Zivilisten allein wegen ihrer palästinensischen Identität angegriffen und dabei schwere, teils irreparable Schäden an der palästinensischen Gesellschaft verursacht, so die NROs.

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