Europa an seinen Grenzen

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Von Rudolf Herbert
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Wenn die Justiz- und Innenminister an diesem Dienstag in Brüssel zusammenkommen, steht die Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen ganz oben auf der Tagesordnung. Zum zweiten Mal, denn bei ihrem jüngsten Treffen vor knapp einer Woche hatte es auch nach stundenlangen, zähen Verhandlungen keinen Kompromiss gegeben. Zwar hieß es zum Schluss hin, man sei sich über die Umverteilung von 40.000 Menschen einig geworden, doch dieses Kontingent hatte die EU bereits zu Beginn des Sommers beschlossen, als die Flüchtlingskrise zwar akut war, doch kaum jemand die dramatischen Ausmaße voraussehen konnte, die sie inzwischen angenommen hat. Das Europaparlament stimmte dem Vorschlag der EU-Kommission zur Umverteilung, mit dem Länder wie Griechenland und Italien entlastet werden sollen, vor wenigen Tagen mehrheitlich zu.

Als Bremser gelten einige Staaten Mittel- und Osteuropas, die sich prompt die Drohung gefallen lassen mussten, Kürzungen der EU-Strukturmittel zu riskieren, sollten sie nicht einlenken. Der Vorwurf, es an Solidarität mangeln zu lassen, mag berechtigt sein. Es stimmt aber auch, dass die wirtschaftliche Lage dieser Länder, die erst seit etwas mehr als einem Jahrzehnt EU-Mitglieder sind, die Arbeitslosenquoten sowie die sehr bescheidenen Lebensverhältnisse der Bevölkerung ihren Politikern eine Entscheidung nicht leicht machen. Zwar trägt der Verteilungsschlüssel dieser Faktoren Rechnung, doch in einigen Hauptstädten fragt man sich, wie viele Umverteilungsrunden es schließlich geben wird und ob die verbindliche Zusage sowie immer höhere Quoten nicht zugleich die falsche Signalwirkung haben. Ein Ende des Zustroms ist nämlich nicht abzusehen, selbst wenn manche Politiker darüber erleichtert sein mögen, dass die Mehrheit der Migranten ohnehin nach Deutschland drängt.

Vergleicht man die Zahlen der Flüchtlinge, die in den vergangenen Wochen nach Europa kamen, mit dem Vorschlag der EU-Kommission, wirkt dieser wie Symbolpolitik. Er steht in keinem Verhältnis dazu, dass allein Deutschland bis zum Jahresende mit bis zu einer Million Ankömmlingen rechnet. Auch die Geste des Europaparlaments ist hilflos, sie scheint realitätsfern. Schätzungen zufolge sind in Syrien etwa sieben Millionen Menschen innerhalb des Landes auf der Flucht, weitere vier Millionen in den Nachbarländern, die meisten in der Türkei und im Libanon. Was will Europa tun, wenn diese Menschen in der Hoffnung aufbrechen, hier Zuflucht zu finden? Und was soll mit den Zehntausenden geschehen, die im Irak, in Afghanistan, Pakistan und in einigen Ländern Afrikas von einem neuen Leben in Europa träumen?

Lange war es so, dass Griechenland und Italien mit dem Vorwurf, die erbetene Hilfe der Partner bleibe aus, Tausende von Flüchtlingen einfach weiterziehen ließen, ohne sie zu registrieren. Inzwischen aber sind die Zahlen sprunghaft angestiegen, es gibt Kontrollen an den Binnengrenzen, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Migranten finden statt und internationale Zugverbindungen werden ausgesetzt. Der Streit zwischen den Mitgliedsländern ist eine ernste Bedrohung für den inneren Zusammenhalt der Union geworden. Die Flüchtlingskrise stellt Europa auf eine harte Probe, sie hat die EU an ihre Grenzen gebracht. Ohne die unzähligen freiwilligen Helfer und den bewundernswerten Einsatz der Polizei wären in Deutschland Verwaltung und öffentliche Ordnung kollabiert. Der Herbst und der Winter bringen zwar eine Verschnaufpause, doch wenn sich die europäische Flüchtlingspolitik weiterhin darauf beschränkt, die Erfüllung von Quoten anzumahnen, gibt es Scherben. Zum Mindesten, dessen es sehr rasch bedarf, gehören Hilfen für die Kriegsflüchtlinge in der Türkei und im Libanon, verbindliche Listen der sicheren Herkunftsländer und eine gemeinsame Einwanderungspolitik.

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