Mit dem Herz noch in Afghanistan: Ein Leben in Europa nach der Taliban-Machtübernahme

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan versuchen viele Afghan:innen, sich ein Leben in Europa aufzubauen.
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan versuchen viele Afghan:innen, sich ein Leben in Europa aufzubauen. Copyright Hannah McCarthy
Von Hannah McCarthy
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Ein neues Leben in Europa beginnen? Das ist für Menschen, die Zuhause alles zurückgelassen haben und sich um ihre Angehörigen sorgen, nicht so einfach. "Mein Körper ist hier, aber mein Geist und mein Herz sind noch in Afghanistan".

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Sechs Monate nach der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan sprechen wir mit vier Afghanen, die geflohen sind und in Europa eine neue Heimat aufbauen.

Atefa, Reza, Zahra und Farid gehören zu den Zehntausenden, die nach dem 15. August 2021 nach Europa geflogen wurden.

Viele von ihnen versuchen, sich an das Leben in Europa anzupassen. Gleichzeitig machen sie sich Sorgen um diejenigen, die sie in Afghanistan zurückgelassen haben.

Einige der Geflüchteten fürchten Repressalien gegen ihre Familien, weil sie mit westlichen Regierungen zusammenarbeiten.

Darüber hinaus verschärft sich die humanitäre Krise: Millionen Afghanen - darunter viele Kinder - leiden in einem unbarmherzigen Winter Hunger.

Die Rückkehr der Taliban hat die internationale Hilfe in Milliardenhöhe aus dem Land vertrieben und das ohnehin schon arme und vom Krieg gezeichnete Land noch weiter in Schwierigkeiten gebracht.

Atefa Hesary, Frankreich

Atefa Hesary arbeitete bis zur Machtübernahme der Taliban als Künstlerin für das Institut Français in Kabul.

Mit Hilfe der französischen Regierung wurde sie 10 Tage später mit einem französischen Militärflugzeug nach Abu Dhabi evakuiert.

Heute lebt sie in Montreuil, einem Vorort der französischen Hauptstadt Paris, wo sie einem Kollektiv für Künstler im Exil angehört.

"Ich setze meine Kunst im Theater fort", sagte Hesary gegenüber Euronews. "Die Theater in Frankreich helfen mir. Die Franzosen sind freundlich und lieben die Künste", sagte sie.

Aber als einziges Mitglied ihrer Familie, das in Frankreich lebt, ist das Leben nicht einfach, sagt sie.

Mein Körper ist hier, aber mein Geist und mein Herz sind noch in Afghanistan
Atefa Hesary
Geflüchtete Künstlerin

"Ich vermisse alles aus Afghanistan, meine Familie, meine Freunde, die Erinnerungen, die Straßen und alles überall", sagte sie.

"Mein Körper ist hier, aber mein Geist und mein Herz sind noch in Afghanistan", fügt sie hinzu. "Es ist schwierig, sein Land, seine Heimat, seine Familie und alles zu verlassen und in ein neues Land mit einer neuen Sprache und einer neuen Kultur zu kommen."

Hannah McCarthy
Atefa Hesary ist zwar physisch in Frankreich angekommen, die Trennung von der Heimat fällt der Afghanin aber schwer.Hannah McCarthy

Die Erfahrungen der afghanischen Asylbewerber in Frankreich sind sehr unterschiedlich, je nachdem, wie sie in das Land gekommen sind. Afghanen, die mit dem Flugzeug aus Kabul abgeholt wurden, konnten ihren Antrag im Schnellverfahren stellen, während viele derjenigen, die Europa auf dem Landweg erreichten - eine lange und gefährliche Reise - obdachlos wurden und in behelfsmäßigen Lagern leben mussten.

"Die Verschlechterung der humanitären Lage in Afghanistan fällt zusammen mit der zunehmenden Bedrohung des Asylrechts in Europa, auch für schutzbedürftige afghanische Staatsangehörige", so Olivia Sundberg Diez, Beraterin für Politik und Interessenvertretung beim International Rescue Committee, gegenüber The New Humanitarian .

Reza Omid, Deutschland

In Afghanistan arbeitete Reza Omid als Monitoring- und Evaluierungsbeauftragter für eine deutsche NGO.

Der 29-Jährige gehört der Minderheit der Hazara an, die unter dem früheren Taliban-Regime unterdrückt wurde.

Als die Taliban die Macht übernahmen, beantragte die NGO Asyl in Deutschland, aber sie hatten keine Chance, vor dem Abzug der USA per Flugzeug evakuiert zu werden.

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Stattdessen bezahlten Omid und seine Frau einen Schmuggler, der ihnen half, auf dem Landweg nach Pakistan zu gelangen.

Credit: Hannah McCarthy
Reza Omid in Baden-Württemberg. In einer dramatischen Flucht verließ er seine Heimat Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban, weil er als Hazara Verfolgung befürchtet.Credit: Hannah McCarthy

Während der Schleusung über mehrere Taliban-Kontrollpunkte auf dem Weg nach Pakistan trug er eine Burka, damit sie an den Kontrollpunkten nicht angehalten werden konnten.

"Es war sehr gefährlich", sagte er Euronews.

Sie verbrachten einen Monat in Pakistan und warteten darauf, dass die deutsche Botschaft ihnen ein Visum ausstellte. Am 14. Oktober flogen sie von Islamabad nach Deutschland.

Omid lebt heute in Baden-Württemberg.

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"Das Wichtigste ist, dass ich mich sicher fühle", sagt er. "Ich habe viel Respekt, Unterstützung und Mut von deutschen Freunden und Menschen in verschiedenen Bereichen meines neuen Lebens erhalten."

Doch die Angst vor dem Leben in der Heimat ist geblieben: Sein Bruder ist ein prominenter Bürgerrechtler und bleibt in Afghanistan.

"Mein Hauptaugenmerk liegt darauf, mich für meinen Bruder einzusetzen und zu versuchen, ihn zu retten. Er befindet sich in großer Gefahr", sagte er.

Rund 20.000 Afghanen warten nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge noch auf ihre Evakuierung aus Afghanistan nach Deutschland. Viele von ihnen haben für deutsche Streitkräfte oder Agenturen gearbeitet und sind nun unter dem neuen Taliban-Regime in Gefahr.

"Die neue Außenministerin ist hier in der Pflicht, klare und schnelle Hilfe anzubieten", sagt Gökay Akbulut, Abgeordnete der Partei Die Linke.

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Zahra Haidari, Irland

Zahra Haidari war als Richterin in Kabul tätig, wo sie Fälle im Zusammenhang mit öffentlicher Sicherheit und Korruption bearbeitete.

Ihr Gericht war für die Inhaftierung mehrerer Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates verantwortlich.

Als die Taliban das Land überrannten, versteckten sich Haidari, die schwanger war, und ihr Mann in der Provinz Balkh in Nordafghanistan.

Mit Unterstützung der International Bar Association wurde das Paar nach Griechenland evakuiert. In Griechenland stellten die irischen Behörden Visa für das Paar aus. Anfang Dezember kamen sie dann nach Irland.

Bei ihrer Ankunft erhielten sie Unterstützung vom Roten Kreuz sowie von der Irish Bar Association und der Law Society. Diese Gruppen vertreten die Angehörigen der Rechtsberufe in Irland und boten einer Gruppe von zehn afghanischen Richterinnen Unterstützung an.

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Haidari und ihr Mann verbrachten zwei Wochen in einem Hotel in Waterford, bevor sie in Dublin untergebracht wurden, wo sie im Dezember das erste Kind des Paares zur Welt brachte.

Credit: Hannah McCarthy
Zahra Haidari hat in Irland ihr erstes Kind zur Welt gebracht. In Afghanistan arbeitete sie als Richterin und fürchtet daher um das Leben ihrer Angehörigen.Credit: Hannah McCarthy

Sie sagt, das Wichtigste sei, dass sie an einem "sicheren und friedlichen Ort" seien, und fügt hinzu, dass "die Iren sehr nett und freundlich sind".

Sie möchte ihre Arbeit für die Gerechtigkeit in Irland fortsetzen, sei es als "Richterin oder Anwältin oder vielleicht im Bereich Menschenrechte und internationales Recht".

Der Rest ihrer Familie bleibt jedoch in Kabul, und sie ist sehr besorgt über die Gefahr, die ihnen durch ihre Arbeit als Richterin droht.

Rory O'Neill vom Irish Refugee Council sprach mit Euronews über die Herausforderungen von Geflüchtete aus Afghanistan.

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"Wohnen und der Zugang zu einem unabhängigen Leben sind die Hauptprobleme, mit denen die neu angekommenen Afghanen konfrontiert sind", sagte er.

"Die anderen Hürden wie Sprache, Berufserfahrung und Zugang zum Arbeitsmarkt sollten nicht so schwierig sein, da die meisten vor den Veränderungen in sicheren Arbeitsverhältnissen auf hohem Niveau waren."

Farid Ahmad Rahmani, Großbritannien

Credit: Hannah McCarthy
Farid Ahmad Rahmani arbeitete für die britische Botschaft in Kabul als die Taliban in Afghanistan die Macht wieder übernahm.Credit: Hannah McCarthy

Farid Ahmad Rahmani war als Dolmetscher in der britischen Botschaft tätig, als die Taliban im August letzten Jahres Kabul einnahmen.

Zusammen mit seiner Frau und seinen sechs Kindern wartete er 19 Stunden lang in Camp Baron, einem Militärstützpunkt der Koalitionstruppen in der Nähe des Flughafens von Kabul.

"Die Menschen drängten sich", sagte er Euronews. "Jeder wollte in das Lager gelangen. Es war wirklich furchtbar."

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Die Familie wurde dann mit einem Blackhawk-Hubschrauber zum Flughafen Kabul geflogen, wo sie nach einer Weile mit einem britischen Militärflug nach Dubai gebracht wurde. Anschließend flogen sie nach Birmingham und wurden von dort nach Manchester gebracht, wo sie eine zweiwöchige Quarantäne machen mussten.

Seitdem wohnt die Familie in einem Hotel in Watford außerhalb Londons. Eine dauerhafte Unterkunft soll bald zur Verfügung stehen. Seine Kinder wurden in den örtlichen Schulen untergebracht - "sie waren an ihrem ersten Tag begeistert".

"Ich finde die Engländer sehr großzügig", sagt Rahmani. "Als wir Afghanistan verließen, konnten wir nichts mitnehmen, und seit wir hier sind, haben sie uns mit allem geholfen, was wir brauchten."

Er vermisst seine Familie, die noch in Afghanistan lebt, darunter seine Mutter und seine Schwester. Dort habe der plötzliche Abzug westlicher Gelder zu Massenhunger geführt, erzählt er. "Ich war der Einzige, der ihnen bei ihrem Unterhalt half", sagt Rahmani.

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