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Ex-Gefangener Kara-Mursa: "Der Tod wäre eine zu milde Strafe für Putin"

Wladimir Kara-Mursa
Wladimir Kara-Mursa Copyright Diana Resnik, Berlin 2024
Copyright Diana Resnik, Berlin 2024
Von Diana Resnik
Zuerst veröffentlicht am Zuletzt aktualisiert
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Der im Rahmen eines historischen Gefangenenaustauschs befreite Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa hat Zukunftspläne für Russland – und für Putin.

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"Erst dachte ich, sie wollen mich erschießen", dann war es "wie in einem sehr guten Film", erzählt der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa über seine Befreiung aus dem russischen Gefängnis, die im Rahmen des größten Gefangenenaustauschs stattfand, den es zwischen westlichen Ländern und Russland seit Ende des Kalten Krieges gegeben hat. In einem Backsteingebäude, das einer mittelalterlichen Burg gleicht, spricht er bei einer Veranstaltung in Berlin nochmals darüber, wie es ihm im Gefängnis in der sibirischen Stadt Omsk ergangen ist und wie er Russland aus dem Exil wiederaufbauen will.

"Erst dachte ich, sie wollen mich erschießen"

Kara-Mursa befindet sich nun in relativer Sicherheit in Berlin. Bei seiner Ausreise hatte er noch eine Warnung mit auf den Weg bekommen, "Erzähl nicht zu viel", hieß es, "Du weißt ja, was sonst alles passieren kann." Doch das erscheint ihm jetzt surreal, wie in einem Film eben, sagt der Oppositionelle, während er bei gedämpftem Licht zu seinen Anhängern spricht.

Die Atmosphäre erinnert an Russland der 1950-er Jahre. Insbesondere in den letzten Jahren der Herrschaft des wohl härtesten Diktators der Sowjetischen Ära, Josef Stalin, hatte sich die sogenannte Intelligentsia, die intellektuelle Elite Russlands, zu der auch Kara-Mursas Vorfahren gehören, insgeheim getroffen, um über Themen zu sprechen, die streng verboten waren und für die man ohne weiteres in den Gulag gelangen konnte.

Wladimir Kara-Mursa
Wladimir Kara-MursaDiana Resnik, Berlin 2024

"Im Gefängnis konnte ich nur mit Katzen sprechen"

"Im Gefängnis konnte ich nur mit Katzen sprechen", beschreibt Kara-Mursa seinen Alltag in Einzelhaft, wo er die meiste Zeit seiner zweieinhalbjährigen Gefängnisstrafe absaß. Im April 2022 ist er verhaftet und wegen Staatsverrat und Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Damals dachte er, er würde nie lebendig herauskommen. Mit seiner Frau hatte er während der gesamten Zeit nur einmal gesprochen, mit seinen Kindern lediglich zweimal. In seiner kleinen Gefängniszelle konnte er oft nur eine Wand anstarren. "Man wird völlig verrückt", erzählt er. "Man fängt an, Worte zu vergessen." Um nicht völlig wahnsinnig zu werden, bestellt er ein Buch in der Bibliothek des Gefängnisses und fängt an, Spanisch zu lernen.

Als man ihn plötzlich aus dem Gefängnis herausführt, glaubt er erst, man würde ihn erschießen. Doch es kommt alles ganz anders. Vom Tomsker Flughafen wird er direkt nach Moskau geflogen und von dort aus nach Ankara. Dass er bald frei sein würde, wusste er bis zuletzt nicht, erzählt Kara-Mursa. Als er zum Bus geführt wird, der ihn zu einem Moskauer Flughafen bringen soll, trifft er auf andere ihm bekannte Gesichter. Zum Beispiel den russischen oppositionellen Politiker Ilja Jaschin, der ebenfalls befreit wurde. "Du siehst aber übel aus", sagte Jaschin ihm bei ihrer ersten Begegnung seit zweieinhalb Jahren. Jaschin, der ebenfalls in der ersten Reihe unter den Zuschauern sitzt, schmunzelt nur darüber. 

Ilja Jashin
Ilja JashinDiana Resnik, Berlin 2024

In Ankara angekommen wird Kara-Mursa als Erstes ein Handy gereicht. Er soll mit US-Präsident Joe Biden sprechen. "Ich hatte, als ich in Einzelhaft saß, kaum Kontakt zu Menschen und seit zweieinhalb Jahren kaum ein Wort auf Russisch gesprochen, geschweige denn auf Englisch", lacht Kara-Mursa. Dann hört er zum ersten Mal seit Langem wieder die Stimmen seiner Frau und seiner Kinder. Für ihn etwas völlig Unglaubliches. Schließlich wird er vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz empfangen.

Diesen hatte er erst vor Kurzem in Berlin wiedergetroffen. Sie unterhielten sich über die Zukunft Russlands, die Tausenden politischen Gefangenen, die noch immer unter schwersten Bedingungen in Russland und Belarus hinter Gittern sitzen, und über die russische Zivilgesellschaft, für die sich Kara-Mursa aus dem Exil einsetzen will. Jedenfalls für die russischen Bürger, die "nicht in einem archaischen, verschlossenen und autoritären Pseudo-Imperium leben wollen, sondern in einem zivilisierten, europäischen Staat."

Isoliert und gedemütigt

Ein Anhänger aus dem Publikum fragt, wie die Menschen so waren, die ihm im Gefängnis begegnet sind. "Sie werden es nicht glauben, aber das waren ganz normale Menschen", antwortet Kara-Mursa. In der gesamten Zeit seien ihm nur zwei Sadisten begegnet. Einer davon war ein Richter in Moskau, der einen persönlichen Groll gegen ihn gehegt hatte und ihm "jede Minute des Prozesses zur Hölle machte". "Er tat das mit einer besonderen Hingabe", beschreibt Kara-Murza. Der andere Sadist begegnete ihm in Omsk. "Er hatte mir verboten, meiner älteren Tochter zu ihrem 18. Geburtstag zu gratulieren. Und er hatte mir verboten, meine Frau zum 20. Jahrestag unserer Hochzeit anzurufen."

"Das Einzige, was es für den Triumph des Bösen braucht, ist, dass gute Menchen nichts unternehmen." Diesen Satz hatte Alexei Nawalny immer gerne gesagt, erinnert sich Kara-Mursa. "Ich unterschreibe das sofort", sagt er. "Jedes totalitäre System wird von einfachen Menschen mitgetragen." 

Wladimir Kara-Mursa
Wladimir Kara-MursaDiana Resnik, Berlin 2024

Wie aber konnte Russland zu dem restriktiven Land werden, das es heute ist? In den neunziger Jahren seien zwei Fehler begangen worden, so Kara-Mursa. Einer aus dem Inneren des Landes und einer von Außerhalb. Innerhalb Russlands war der Fehler, dass man sich nicht mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hatte. "Wenn das Böse nicht verurteilt und bestraft wird, kehrt es zurück."

Wenn das Böse nicht verurteilt und bestraft wird, kehrt es zurück.
Wladimir Kara-Mursa
Russischer Oppositioneller

"All die Länder, die den Weg vom Totalitarismus erfolgreich gemeistert haben, sie alle sind durch eine moralische Katharsis gegangen. Deutschland wurde nach 1945 gezwungen, dies zu tun. Später konnte man Archive einsehen und sich mit dem Thema auseinandersetzen. In Russland hat das nie stattgefunden", erklärt Kara-Mursa. Es sei wichtig, dass die Gesellschaft verarbeitet, was passiert ist. "Das ist ein sehr schwerer, schmerzhafter Prozess", sagt Kara-Mursa.

Der Fehler des Westens

Der andere Fehler sei von Außen begangen worden. Andere osteuropäische Länder hätten es einfacher gehabt, sich von ihrer sowjetischen Vergangenheit zu erholen und Demokratien zu bilden, weil sie einen sehr starken Stimulus von außen erhalten haben, erklärt Kara-Mursa. Nämlich die Möglichkeit, sich vollständig in Europa zu integrieren. Sie konnten wieder Teil Europas werden.

Der Westen war in den 90er Jahren jedoch noch nicht bereit, ein demokratisches Russland anzunehmen und zu integrieren. "Wir hatten diesen Stimulus von Außen nicht", sagt Kara-Mursa. "Intern muss Russland seine Lehren ziehen. Aber es ist genauso wichtig, dass der Westen bereit ist, ein neues, demokratisches Russland anzunehmen, das aus seinen Fehlern gelernt hat. Russland gehört unweigerlich zu Europa. Sowohl kulturell als auch mental. Wenn unser Ziel ein friedliches Europa ist, das in Freiheit und Einigkeit lebt, dann kann das nur mit der Beteiligung eines friedlichen und freien Russlands geschehen", sagt der russische Dissident.

Russland ist ein Vielvölkerstaat. Doch es muss noch "ein wirklich föderatives Land werden", sagt Kara-Mursa. Viele Russen befürworten eine autoritäre Führung, da sie befürchten, Russland könne wie die Sowjetunion zersplittern. "Ich glaube nicht, dass es eine Zersplitterung geben wird", sagt der russische Oppositionelle. Stärkere Regulierungen als Abgrenzungsmechanismen, die die Identität der einzelnen ethnischen Minderheiten im Land schützen, erscheinen ihm da wahrscheinlicher.

Als Beispiele nennt er Schottland und Québec. Beides autonome nationale Gemeinschaften innerhalb größerer Staaten. Was den einzelnen Regionen aber erlaubt sein sollte, ist, in ihrer Muttersprache zu sprechen und sie ihren Kindern an Schulen zu unterrichten. "Jetzt verfolgt Russland eine zentralistische Politik. Das ist falsch", bemerkt Kara-Mursa.  

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Wie geht es weiter?

Damit Russland endlich frei und demokratisch ist, müsste der russische Präsident Wladimir Putin aber zumindest seine Macht abgeben. "Vielleicht wird Russland frei sein, wenn er irgendwann stirbt", bemerkt jemand aus dem Publikum.

Kara-Mursa wünscht Putin aber Gesundheit. "Ich will ihn auf der Anklagebank sehen. Ich will, dass er sich für alles, was er in den 25 Jahren angerichtet hat, verantworten muss. Mir ist klar, dass er sich dort (vor Gott) auf jeden Fall verantworten muss", sagt Kara-Mursa während er mit seinem Zeigefinger nach oben zeigt. "Aber ich möchte, dass er auch hier zur Verantwortung gezogen wird. Dass er sich für Nemzow verantworten muss, für Nawalny, für die getöteten ukrainischen Kinder. Der Tod wäre eine zu milde Strafe."

Wladimir Kara-Mursa
Wladimir Kara-MursaDiana Resnik, Berlin 2024

Was jeder Einzelne von uns tun kann? "Es gibt genug Arbeit für uns alle", verspricht Kara-Mursa. Es sei wichtig, den Dialog aufrechtzuerhalten, mit Menschen zu sprechen, sie zu überzeugen und mit ihnen zu diskutieren, damit später, wenn die Zeit reif ist und Russland sich ändert, all das wiederhergestellt werden kann, was in den 25 Jahren zerstört wurde", sagt der Oppositionelle.

"Damit diese Verbindung nicht verloren geht zu unserem Russland“, sagt Kara-Mursa, während er "unser Russland" mit besonders warmer Stimme betont. "Dem Russland von Boris Nemzow und Alexei Nawalny", den schärfsten Kritikern Putins, die der Meinung der russischen Oppositionellen zufolge von Putin umgebracht wurden. Nemzow wurde 2015 im Zentrum Moskaus erschossen und Nawalny starb unter dubiosen Umständen in der sibirischen Strafkolonie "Polarwolf".

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"Die Wahrheit ist auf unserer Seite."

Unterdessen träumt Kara-Mursa davon, die Stadt Tomsk zu besuchen, wo er so lange im Gefängnis saß. "Es ist ein komischer Traum", gibt er zu. Er war bereits in vielen größeren Städten Sibiriens, nur Tomsk hätte er außerhalb seiner kleinen Gefängniszelle noch nicht gesehen. 

In seiner Zelle erhielt er monatlich Tausende von Briefen. "Darin fragten mich die Menschen immer, warum ich so optimistisch sei, warum ich Hoffnung (für Russland) hätte? Ich antwortete immer nur: Ich hoffe nicht, ich weiß", sagt Kara-Mursa. "Die Wahrheit ist auf unserer Seite."

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