Das ungarische Parlament will zu Wochenbeginn über eine Änderung des Grundgesetzes abstimmen. Dabei soll debattiert werden, die ungarische Staatsbürgerschaft bei Doppelstaatsbürgern auszusetzen. Das Geschlecht soll hingegen künftig nur mehr als "männlich" oder "weiblich" festzuschreiben sein.
Im April 2011 verfasste und verabschiedete die Fidesz-Partei in Ungarn erhebliche Grundgesetzänderungen. Gerade war sie mit einer entsprechenden Mehrheit an die Macht gekommen, nun sollte das Verfassungsystem umgestaltet werden. Im Jahr 1989 war nach dem Regierungswechsel hin zur Demokratie lediglich die sozialistische Verfassung geändert worden, um das neue demokratische Staatssystem widerzuspiegeln.
Mit dem neuen Grundgesetz von 2011 und den dazugehörigen Änderungen wurde die gesamte Staatsorganisation und das Wahlsystem im Einklang mit den Zielen der Fidesz umgeschrieben. Als das Gesetz in Kraft trat, erklärte Ministerpräsident Viktor Orbán, es werde eine "granitsichere" Grundlage für weitere Fortschritte schaffen.
Seitdem hat die Fidesz ununterbrochen die Regierung gestellt - aber selbst das neue Grundgesetz erwies sich aus ihrer Sicht manchmal als zu restriktiv. Zentrale Gesetze mussten mehrmals geändert werden, um politische Ziele zu erreichen, wie zum Beispiel dafür, dass ein regierungsfreundlicher Kandidat sein Amt an der Spitze einer staatlichen Organisation, wie dem obersten Gerichtshof, antreten kann. Infolgedessen musste das Grundgesetz innerhalb von 14 Jahren 14 Mal geändert werden, wobei in den meisten Fällen die erforderliche verfassungsmäßige Mehrheit vorhanden war. Es ist wahrscheinlich, dass es nun nicht anders sein wird.
Orbáns Programm
Das Programm für die Verfassungsänderung wurde in der jährlichen Bilanzrede des Ministerpräsidenten Viktor Orbán im Februar weitgehend dargelegt, in der er die Themen erläuterte, auf die die Regierungspartei im letzten vollen Jahr ihrer vierten Amtszeit ihren Fokus legen will. Es wurde deutlich, dass der Ministerpräsident beabsichtigt, noch mehr Maßnahmen als bisher zu ergreifen, um gegen die Opposition, die Nichtregierungsorganisationen und die Medien vorzugehen, die seine Regierung kritisieren.
"Wir müssen dringend die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir nicht tatenlos zusehen müssen, wie pseudo-zivilgesellschaftliche Organisationen ausländischen Interessen dienen und vor unseren Augen politische Aktionen organisieren", sagte Orbán. Er plant eine weitere Verschärfung der LGBTQ-Gesetze unter Berufung auf Kinderrechte, will das Pride-Verbot aufrechterhalten und das Drogenproblem im ländlichen Ungarn angehen, nachdem es jahrzehntelang völlig vernachlässigt wurde.
Ungarische Staatsbürgerschaft aussetzen
Der erste Punkt der Novelle sieht vor, dass die ungarische Staatsbürgerschaft von Doppelstaatsbürgern vorübergehend ausgesetzt werden kann. Angesichts der Äußerungen von Abgeordneten der Regierungspartei und Viktor Orbán fällt es schwer, diese Möglichkeit als etwas anderes zu interpretieren als eine bisher undenkbare verfassungsrechtliche Möglichkeit für die Regierungspartei, gegen Oppositionspolitiker, Geschäftsleute, NGOs oder Journalisten vorzugehen.
Die Änderung besteht im Wesentlichen darin, dass ein ernannter Minister die ungarische Staatsbürgerschaft aussetzen kann, wenn die betreffende Person eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. Die rechtliche Voraussetzung ist, dass die ungarische Staatsbürgerschaft "eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit in Ungarn darstellt", zum Beispiel, weil die betreffende Person in der Armee oder im öffentlichen Dienst eines anderen Landes dient, sich einer terroristischen Organisation angeschlossen oder schwere Verbrechen wie Völkermord, Terrorismusfinanzierung oder Hochverrat begangen hat.
Es gibt jedoch eine Klausel, die besagt, dass die Suspendierung auch gegen jeden verhängt werden kann, der "im Interesse einer ausländischen Macht oder einer ausländischen Organisation handelt oder die Ziele einer ausländischen Macht oder einer ausländischen Organisation in einer Weise verfolgt, die mit der ungarischen Staatsbürgerschaft nicht vereinbar ist". Dieser Vorwurf wird von der ungarischen Regierung routinemäßig gegen alle Presseerzeugnisse und NGOs erhoben, die ihr gegenüber kritisch eingestellt sind, unter anderem mit der Begründung, dass sie bei öffentlichen Ausschreibungen Finanzmittel der Europäischen Kommission erhalten.
Im Übrigen muss der Minister diesen Vorwurf nicht einmal beweisen, da bei der gerichtlichen Überprüfung - die von der Kurie, der höchsten gerichtlichen Instanz in Ungarn durchgeführt wird - nur nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person keine andere als die ungarische Staatsangehörigkeit besitzt. Das heißt, die Kurie kann nicht prüfen, ob sie eine echte Bedrohung für Ungarn darstellt.
Zuvor war die Rede davon, diesen Personen die ungarische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Dies wurde später aufgegeben, vermutlich weil es aus völkerrechtlicher Sicht nicht vertretbar wäre. Die Änderung sieht nun die Aussetzung der ungarischen Staatsbürgerschaft vor. Eine Gruppe ungarischer Völkerrechtler, darunter die Tochter und der Schwiegersohn von Präsident Tamás Sulyok, haben sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Novelle ausgesprochen.
"Unserer Ansicht nach ist die Aussetzung der Staatsbürgerschaft eine im internationalen Recht beispiellose Konstruktion, die leicht missbraucht werden kann", heißt es in der Erklärung: "Die Ausweisung der eigenen Staatsbürger aus dem Land kann eine Form von Exil und unmenschlicher Behandlung darstellen und im Widerspruch zu den für den betreffenden Staat verbindlichen Menschenrechtskonventionen stehen.
Ebenso erinnern wir daran, dass der wesentliche Inhalt von Menschenrechten, einschließlich der Versammlungsfreiheit oder der Freiheit der Meinungsäußerung, nicht durch Gesetze eingeschränkt werden dürfen und nicht unter dem vom Völkerrecht geforderten Mindestschutzniveau liegen darf."
Begrenzung auf zwei Geschlechter
Seit Jahren kämpft die ungarische Regierungspartei mit unterschiedlicher Intensität gegen die "Woke-Ideologie" und den Begriff "Gender", der in Ungarn kaum Fuß gefasst hat. Dies äußerte sich zum einen in der Ablehnung von Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen (Nichtratifizierung des Istanbuler Vertrags) und zum anderen in administrativen Einschränkungen der Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender-Personen.
Homosexuelle Paare hatten hingegen nie die Möglichkeit, in Ungarn zu heiraten, aber es gab beispielsweise ein gesetzliches Schlupfloch für Adoptionen, das vom Orbán-Regime geschlossen wurde. Eine weitere ideologisch motivierte Änderung war die Verpflichtung für Transgender-Personen, ihr ursprüngliches biologisches Geschlecht im Personalausweis anzugeben. Die Verfassung wurde davor auch bereits einmal von der Fidesz-Mehrheit geändert, um festzulegen, dass "der Vater männlich und die Mutter weiblich" ist. Die größte Auswirkung dieser Änderungen war jedoch die fortgesetzte Etikettierung der LGBTQ-Gemeinschaft als eine Gruppe mit schädlichen Bestrebungen für die Gesellschaft.
In seiner Rede im Februar erklärte Viktor Orbán, dass man das biologische Geschlecht im Grundgesetz weiter gesetzlich verankern wolle, sodass darin stehen werde, dass "der Mensch entweder männlich oder weiblich ist".
"Das Geburtsgeschlecht eines Menschen ist die biologische Grundausstattung, die - in Übereinstimmung mit der Schöpfungsordnung - entweder männlich oder weiblich sein kann", heißt es im Vorschlag zur Gesetzesänderung. "Es ist die Pflicht des Staates, den rechtlichen Schutz dieser natürlichen Ordnung zu gewährleisten und Bestrebungen zu verhindern, die suggerieren, dass es möglich ist, das Geburtsgeschlecht zu ändern. Die Fixierung des biologischen Geschlechts gewährleistet die gesunde Entwicklung der Gesellschaft und die Aufrechterhaltung grundlegender Gemeinschaftsnormen."
Die Verfassungsänderung ist nur ein Teil der Kampagne des Orbán-Regimes gegen die LGBTQ-Gemeinschaft, wobei der Hauptangriff auf das Verbot der Pride-Parade und in Verbindung damit auf die Einschränkung des Versammlungsrechts abzielt. Die entsprechenden Gesetze wurden bereits vom Parlament verabschiedet. Die Pride-Parade wurde mit der Begründung verboten, dass sie sich nachteilig auf die Entwicklung von Kindern auswirken würde, was die Versammlungsfreiheit als Verfassungsrecht aushebelt.
Dazu soll ebenfalls ein entsprechender Passus in die Verfassung aufgenommen werden: Das Recht des Kindes auf eine gesunde Entwicklung "hat Vorrang vor allen anderen Grundrechten". Ungarn schützt das Recht der Kinder auf Selbstidentität entsprechend ihrem Geburtsgeschlecht und gewährleistet eine Erziehung gemäß den Werten, die auf der verfassungsmäßigen Identität und der christlichen Kultur unseres Landes beruhen."
Zu Wochenbeginn wird die Regierungsmehrheit auch über die Aufhebung der Immunität von Oppositionsabgeordneten abstimmen, die mit Nebelkerzen gegen das Pride-Verbot protestiert hatten. Parlamentspräsident László Kövér hatte danach bereits Strafanzeige gegen sie erstattet.
Maßnahmen gegen das Drogenproblem
Die vorgeschlagene Änderung sieht vor, dass "die Herstellung, der Konsum, der Vertrieb und die Werbung für Drogen in Ungarn verboten ist". Die Orbán-Regierung hat Drogen immer wieder als ein Problem der Strafverfolgung dargestellt, dementsprechend lief die letzte Drogenstrategie des Landes 2020 aus. Danach wurde keine neue als Ersatz geschaffen, obwohl unabhängige Presseberichte gezeigt haben, dass vor allem in ländlichen Gebieten - der traditionellen Wählerbasis der Fidesz - unkonventionelle, sogenannte Designerdrogen sehr weit verbreitet sind und zu ernsthaften Spannungen führen. Um dem entgegenzuwirken, wurde nach Orbáns Rede im Februar ein Regierungsbeauftragter für Drogen ernannt und ein Gesetzespaket zur Änderung mehrerer Richtlinien verabschiedet, um das Problem vor allem durch härtere Strafen einzudämmen.
Mit der Änderung des Grundgesetzes wird zum Teil bekräftigt, was bereits im Strafgesetzbuch steht, mit der einzigen Ausnahme der "Werbung", die lediglich verfassungsrechtlich unter Strafe gestellt wurde. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, unter anderem in Bezug auf die Zugänglichkeit bestimmter literarischer oder filmischer Werke. Die einzige konkrete Auswirkung war bisher die Weigerung der ungarischen Behörden, eine Demonstration für die Legalisierung von Marihuana zuzulassen.
Verwendung von Bargeld
Die Änderung sieht vor, dass die Formulierung "jeder hat das Recht, Eigentum zu besitzen und zu erben" durch "und mit Bargeld zu bezahlen" ersetzt wird. Die Verwendung von Bargeld war bereits zuvor Thema der rechtspopulistischen Partei Mi Hazánk, die behauptete, dass die Verwendung von Bargeld ein Instrument für die "totale digitale Überwachung" und die "Abbuchung durch den Staat auf Knopfdruck" sei und dass das Recht der Menschen, mit Bargeld zu bezahlen, wenn sie dies wollen, in der Verfassung geschützt werden sollte.
Zuvor hatten sich Fidesz-Wirtschaftspolitiker schockiert über die Menge an Bargeld gezeigt, die in der ungarischen Bevölkerung im Umlauf ist, und eine Verringerung dieser Menge gefordert. Zu den durchweg anerkannten Erfolgen der Fidesz-Regierungen seit 2010 gehört es, die Steuerhinterziehung in der Privatwirtschaft durch den Ausbau des elektronischen Zahlungsverkehrs und die Anbindung der Kassen an die Steuerbehörden deutlich zu reduzieren.
Über die praktischen Auswirkungen der Novelle wird von Experten noch spekuliert. Es gibt unzählige Beispiele für Situationen, in denen Barzahlung nicht mehr möglich ist - etwa bei Online-Shops oder bei bestimmten Festen. Es ist aber auch möglich, dass die Novelle keine praktischen Änderungen mit sich bringt, sondern nur eine Geste der Beruhigung für die Wählerschaft der Rechtspopulisten ist. Sie befürchten ein zu starkes Vertrauen in die staatliche Kontrolle und könnten für die politische Machtbasis der Fidesz bei den Wahlen 2026 besonders wichtig sein.