Der schwedische Sonderweg: Das beste Mittel gegen "Corona-Müdigkeit"?

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Copyright AP Photo/Andres Kudacki, Archivo
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Von Emma Beswick
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Seit sieben Monaten gelten in Europa wegen der Corona-Pandemie Freiheitseinschränkungen, das macht viele mürbe. Hat Schweden da die bessere Strategie?

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Sieben Monate Corona-Maßnahmen und kein Ende in Sicht: Seit März leben die Menschen in den meisten Ländern in Europa mit großen Freiheitseinschränkungen. Teilweise konnten und können sie nicht mehr hinfahren wo sie wollen, sie müssen im Alltag eine Maske tragen, sollten sich nicht umarmen, feiern und unbeschwert versammeln. Kinder und Jugendliche konnten wochenlang nicht in die Schule. BüroarbeiterInnen sind oft im Homeoffice. Viele stehen vor dem wirtschaftlichen Ruin.

Für die Bekämpfung der Pandemie könnte das ein Problem werden, denn die ständigen Einschränkungen führen zur "Corona-Müdigkeit", ein Phänomen, das auch der Weltgesundheitsorganisation Sorgen bereitet. Viele Mitgliedsstaaten fürchten, dass die Akzeptanz gegenüber den Beschränkungen sinkt, die gerade fast überall wieder verschärft werden, so die WHO.

Könnte der schwedische Sonderweg angesichts dessen ein positives Beispiel für den längerfristigen Umgang mit der Pandemie sein? Das Land ist für seinen relativ laxen Kurs bekannt. Die SchwedInnen mussten sich in den vergangenen Monaten deutlich weniger einschränken. Während in Frankreich, Spanien und Italien Menschen kaum das Haus verlassen durften, trafen sie sich weiter in Bars und Restaurants, Schulen und Kindergärten blieben offen. Könnte das auch dazu führen, dass die SchwedInnen weniger "müde" sind und die Einschränkungen, die man ihnen trotzdem abverlangt, auch noch über Monate hinweg akzeptieren und respektieren?

Funktioniert der schwedische Sonderweg?

Der schwedische Umgang mit der Corona-Pandemie ist umstritten: Bei vielen gilt das Land als Musterbeispiel für den Versuch, SARS-CoV-2 mit Herdenimmunität zu begegnen, obwohl der schwedische Botschafter in London gerade erst wieder betonte, dass dies gar nicht die Strategie sei.

Auch in der Wissenschaft ist der schwedische Sonderweg umstritten: Eine Gruppe aus 50 ForscherInnen und über 100 Mitgliedern, die sich "Vetenskapsforum COVID-19 (Wissenschaftsforum COVID-19) nennt, kritisiert das Vorgehen der schwedischen Regierung. Der Versuch, bei der Bekämpfung vor allem an die Verantwortung der Bevölkerung zu appellieren, habe zu einer im Vergleich zu den anderen nordischen Ländern hohen Todeszahl geführt.

Claudio Bresciani/ TT via AP
Das Gesicht des schwedischen Sonderwegs: Staatsepidemiologe Anders TegnellClaudio Bresciani/ TT via AP

Insgesamt liegt Schweden bei den relativen Todeszahlen im weltweiten Vergleich auf Platz 15. In Europa gab es pro 1 Million EinwohnerInnen bisher nur in Italien, Großbritannien, Belgien und Spanien mehr Tote. Rund sieben Prozent der Menschen, die in Alten- und Pflegeheimen wohnen sind in Schweden durch Covid-19 gestorben.

"Kultur der Übereinstimmung" in Schweden

Auch wenn in Schweden öffentliche Einrichtungen, Geschäfte und Bars offen blieben, gab es ein paar Einschränkungen. Bei Versammlungen galt eine Obergrenze von 50 Menschen und Besuche in Altenheimen waren monatelang nicht mehr gestattet. Offenbar waren strenge Regeln auch nicht unbedingt nötig. Aus Handydaten geht hervor, dass viele SchwedInnen freiwillig weniger aus dem Haus gingen.

Die Gesundheitsbehörden wollten, dass die 'neue Normalität' akzeptiert wird, und das haben sie auch erreicht.
Anamaria Dutceac Segesten
Schwedin

Das bestätigt auch Anamaria Dutceac Segesten. Sie lehrt Europäische Studien an der Universität im südschwedischen Lund. In Schweden gäbe es eine "Kultur der Übereinstimmung", die einen strikten Lockdown nicht nötig mache, so die Forscherin. Die SchwedInnen hätten allgemein ein großes Vertrauen in die Regierung, die laut Dutceac Segesten in der Pandemie langfristig denkt. Die Maßnahmen erscheinen den Menschen vernünftig, sagt sie, deswegen würden sie diese befolgen. Die Strategie, relativ wenige Einschränkungen zu verhängen, funktioniere: "Die Gesundheitsbehörden wollten, dass die 'neue Normalität' akzeptiert wird, und das haben sie auch erreicht." Natürlich hielten sich nicht alle immer zu 100 Prozent an Abstandsregeln, so Dutceac Segesten. Die Studierenden an ihrer Universität befolgten diese zwar auf dem Campus, aber nicht außerhalb.

Auch der 72-jährige Architekt Hans Lindberg aus Mariestadt sagt, dass sich vor allem jüngere Menschen wenig Sorgen um Covid-19 machten, die meisten SchwedInnen hielten sich jedoch an die Vorgaben. "Wir glauben an das, was die Behörden sagen und wir vertrauen ihren Einschränkungen. Wir sind es gewöhnt, Anweisungen zu befolgen. Die Menschen akzeptieren die Situation so, wie sie ist." Seiner Meinung nach gibt es bisher keine Pandemie-Müdigkeit.

Das einzige, was die Menschen wirklich leid sind, ist, über die Pandemie zu sprechen.
Max Faxälv
Schwede

Max Faxälv ist Student und Software-Entwickler. Er geht davon aus, dass die Menschen in Schweden weniger mit negativen psychologischen Folgen der Pandemie zu kämpfen haben. Er habe Verwandte in Dänemark, die sehr unter der Isolation gelitten hätten. Trotzdem frage er sich, wie die vielen Menschen, die im Homeoffice arbeiten, längerfristig damit umgehen, weniger Menschen zu sehen. Die Gesundheitsbehörden haben die Menschen angewiesen, von zu Hause zu arbeiten, wann immer das möglich sei. Auch er halte sich weniger an die Abstandsregeln, sagt Faxälv, aber er lebe nicht mit älteren Menschen Menschen zusammen. Von einer Corona-Müdigkeit merke er wenig. Faxälv: "Das einzige, was die Menschen wirklich leid sind, ist, über die Pandemie zu sprechen."

Strenge Regeln in Frankreich

Ganz anders die Lage in Frankreich: Dort herrschte im Frühjahr zwei Monate lang eine strenge Ausgangssperre. Die Menschen mussten Formulare ausfüllen, wenn sie das Haus verließen. Zum Vergnügen durfte man nur eine Stunde pro Tag das Haus verlassen, durfte einen Umkreis von einen Kilometer nicht verlassen und außerdem keine Menschen treffen, die nicht im selben Haushalt lebten. Während der Sommer relativ normal ablief, gilt mittlerweile in vielen Städten eine nächtliche Ausgangssperre.

Wir haben keine Lust mehr, aber wir haben keine Wahl.
Nikky Lorcerie
Französin

Den Französinnen und Franzosen wurde also viel abverlangt, corona-müde seien sie trotzdem nicht, sagt Nikky Lorcerie, Floristin im ostfranzösischen Lyon. Im Gegenteil: Sie beobachte an ihren KundInnen, dass die Menschen sich besser an die Regeln hielten, je länger die Pandemie dauere. "Wir haben alle keine Lust mehr, aber wir haben keine Wahl. Wir sehen, wie immer mehr Menschen in unserer Umgebung krank werden, deswegen sind wir vorsichtig."

Lewis Joly/ Associated Press
Sperrstunde und Ausgangssperre: Corona-Herbst in FrankreichLewis Joly/ Associated Press

Lea Cailleau sieht das ganz anders. Sie lebt in Lyon und arbeitet in der Schweiz. Sie beobachte, dass sich die Menschen immer weniger an die Abstandsregeln hielten. "Die Leute sind nicht vorsichtig. Auf dem Markt zum Beispiel laufen sie ineinander und drängeln. Das ist sehr unangenehm." Der Unmut sei groß, so Cailleau. "Die Leute haben keine Lust mehr. Wir haben kein Leben mehr. Bars sind geschlossen. Es gibt immer neue Regeln. Das macht die Franzosen mürbe."

Franzosen streben immer nach Revolution. Wenn es Regeln gibt, wollen wir sie brechen.
Lea Cailleau
Französin

In der Schweiz halte sich die Bevölkerung besser an die Regeln, so Cailleau. Aber die Städte seien auch weniger dicht bevölkert. Ihrer Meinung nach brauchen die Französinnen und Franzosen strenge Vorgaben, um diszipliniert zu sein: "Franzosen streben immer nach Revolution. Wenn es Regeln gibt, wollen wir sie brechen. Das ist eine Stärke, aber auch eine Schwäche."

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