Eine Woche nach dem Sturz des langjährigen Präsidenten Baschar al-Assad erklärt die neue syrische Übergangsregierung, dass es keinen Grund für eine russische Präsenz in Syrien gibt. Die neue Regierung erklärt außerdem, sie sei offen für Kontakte mit allen Ländern.
Der Sprecher der politischen Abteilung der neuen syrischen Übergangsregierung hat Russland aufgefordert, seine Präsenz im Land zu überdenken. Nach dem Sturz des früheren syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, der ein enger Verbündeter von Russlands Präsident Wladimir Putin war, sehe man keinen Grund mehr für russische Truppen in Syrien.
Auch die Satellitenbilder zeigen, dass Moskaus Truppen offenbar aus Syrien abziehen. Unter anderem wurde vor Kurzem ein Konvoi russischer Militärfahrzeuge gesichtet, der von der Küstenstadt Latakia aus nach Süden in Richtung der Stadt Tartus fuhr.
Außerdem zeigen die Satellitenbilder einen Rückzug der russischen Kriegsflotte. So standen zum Beispiel am 10. Dezember im Hafen Tartus keine russischen Kriegsschiffe mehr.
Russland könnte seinen Zugang zum Mittelmeer verlieren
Russland hat zwei Militärstützpunkte in Syrien: Den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim nahe der Hafenstadt Latakia und den Marinestützpunkt Tartus an der Mittelmeerküste. Sie gelten als die strategisch wichtigsten militärischen Außenposten des Kremls in der Region.
Besonders kritisch ist der Standort Tartus, der Russland den einzigen direkten Zugang zum Mittelmeer und eine Basis für die Durchführung von Marineübungen bietet. Dort werden Kriegsschiffe stationiert und außerdem ist der Tiefseehafen für Atom-U-Boote geeignet.
Westliche Analysten und Nachrichtendienste gehen davon aus, dass der Kreml einen groß angelegten Rückzug aus Syrien plant, was Moskau jedoch noch nicht bestätigt hat.
Der Sprecher der syrischen Übergangsregierung, Obeida Arnaout hat jedoch neulich betont hat, dass man noch nicht klar erkennen könne, ob Kreml seine Truppen tatsächlich aus Syrien zurückzieht oder seine Truppen lediglich vorübergehend verlegt hat.
"Ihre Interessen waren mit dem kriminellen Assad-Regime verbunden"
"Ich denke, dass Russland seine Präsenz auf syrischem Territorium und seine Interessen überdenken sollte", sagte Arnaout. "Ihre Interessen waren mit dem kriminellen Assad-Regime verbunden. Sie können sich besinnen und Initiativen ergreifen, um der neuen Regierung die Hand zu reichen und zu zeigen, dass sie keine Feindseligkeit gegenüber dem syrischen Volk hegen und dass die Ära des Assad-Regimes endgültig vorbei ist", fügte er hinzu.
Al-Assad wurde von einer Rebellenkoalition gestürzt, der von der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) angeführt wurde. Direkt danach ernannte HTS eine neue Übergangsregierung, die Arnaout zufolge unterdessen Gespräche auf höchster Ebene mit vielen Ländern der Welt geführt hat.
In einem Gespräch mit arabischen Medien betonte Arnaout, dass es eine historische Wende in Syrien gegeben habe. Nun gehe es darum, die jahrzehntelange Spaltung des Landes zu überwinden und den brutalen Kämpfen, die seit knapp 14 Jahren andauern, ein Ende zu setzen.
EU nimmt Kontakt mit der HTS auf
Die neue Politik Syriens sei eine Politik der Offenheit, betont die syrische Übergangsregierung. Sie wolle gute Beziehungen zu den Nachbarn und der ganzen Welt aufbauen.
Am Samstag bestätigten die USA zum ersten Mal öffentlich ihre Teilnahme an Gesprächen mit der HTS, das Vereinigte Königreich bestätigte ein ähnliches Vorgehen am folgenden Tag.
Am Montag gab auch die Europäische Union bekannt, dass sie den ersten Schritt zur Kontaktaufnahme mit der Rebellengruppe unternimmt. Dieser Schritt ist das bisher deutlichste Zeichen für die Bereitschaft der EU, die Beziehungen zur HTS zu normalisieren.
"Ich habe einen europäischen Spitzendiplomaten in Syrien beauftragt, nach Damaskus zu reisen, um Kontakte mit der neuen Regierung und den dortigen Menschen herzustellen", sagte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas am Montagmorgen vor einem Treffen der EU-Außenminister in Brüssel. Die Zukunft Syriens war dabei eines der wichtigsten Themen auf der Tagesordnung.
"Ich freue mich, dass ich den Vorsitz bei meinem ersten Treffen der EU-Außenminister führen durfte. Unsere wichtigsten Tagesordnungspunkte waren die Unterstützung der Ukraine, der Übergang in Syrien, und Georgien", schrieb Kallas nach dem Treffen auf X.
HTS könnte aus der Liste der Terrororganisationen gestrichen werden
Die HTS steht seit 2014 auf der schwarzen Liste der Vereinten Nationen, weil sie früher mit Al-Qaida verbündet war. Alle 27 EU-Mitgliedstaaten halten sich an diese Einstufung.
Doch die HTS hofft, aus dieser Liste schnell gestrichen zu werden. Es sei "nicht richtig und nicht zutreffend", die HTS als eine Terrororganisation zu bezeichnen, betonte Arnaout. Er erklärte, dass die Gruppe sich für Einheit und Gerechtigkeit einsetzen würde und forderte die EU, die USA, das Vereinigte Königreich und andere Länder auf, diese Einstufung zu überdenken.
Kallas schließt die Streichung der HTS aus der Liste nicht aus, betont aber, dass man erst Mal abwarten wolle, wie sich die Lage in Syrien entwickelt. "Für uns sind es nicht nur die Worte, sondern wir wollen sehen, dass die Taten in die richtige Richtung gehen. Also nicht nur, was sie sagen, sondern auch, was sie tun", sagte sie in Brüssel. "Ich denke, die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, ob es in die richtige Richtung geht."
Besorgnis über den "reformierten" Ansatz der HTS
Seit dem Sturz des Assad-Regimes hat sich die HTS als führende Kraft in der neuen politischen Ära positioniert und einen geschäftsführenden Ministerpräsidenten ernannt, der bis März 2025 einer Übergangsregierung bevorstehen soll. Unter anderem verspricht die HTS die Einführung einer freien Marktwirtschaft, um Investoren anzuziehen.
Sie wird jedoch nach wie vor mit dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen konfrontiert. Unter anderem werden ihr Hinrichtungen wegen Blasphemie und Ehebruch vorgeworfen. Dieser Hintergrund hat Zweifel daran geweckt, ob sie Syrien tatsächlich im Zeichen des Pluralismus und der Toleranz regieren werden.
Syrien ist ein äußerst vielfältiges Land, in dem sunnitische Muslime, die über 70 Prozent der Bevölkerung ausmachen, neben schiitischen Muslimen, Alawiten, Christen und ethnischen Minderheiten wie Drusen, Irakern, Armeniern, Assyrern, Kurden und Palästinensern leben.