Wohin steuert die Klimaprotestbewegung?

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Von Hans von der BrelieSabine Sans
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EuronewsWitness-Reporter Hans von der Brelie ist quer durch Europa gereist, um Klima-Aktivisten zu treffen. Die spektakulären Aktionen werden zunehmend skeptisch gesehen. Aber laut den Aktivisten bleibt keine Wahl: Die Politik agiert zu langsam - die Zeit zum Handeln wird knapp.

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Achtung: Mitmachtest! Kein Witz jetzt, echt: Gehen Sie mal in einer beliebigen europäischen Großstadt auf den Marktplatz und stellen folgende Frage: Tomatensuppe & Kartoffelbrei – an was denken Sie jetzt? Wetten, dass Ihnen mindestens jeder Zweite NICHT mit Vorspeise & Sättigungsbeilage antwortet. Im Gegenteil, die Chancen stehen so richtig gut, dass Sie jetzt nicht mehr wegkommen vom Marktplatz, festgeklebt an einer aufgeregten Debatte über Klima-Demo-Methoden. Grund genug, dass ich mich auf den Weg mache, quer durch Europa. Im Gepäck die Frage: Wohin steuert die Klimaprotestbewegung?

Eingangs erst einmal eine Klarstellung: Das hier ist jetzt keine Reportage über Klimachaos; dass alles heißer und schlimmer wird, hat sich ja mittlerweile herumgesprochen. Fakt eben. Leider! - Nein, es geht um was anderes: Ich will ganz direkt abchecken, ob die Klima-Aktivisten heute, anno 2023, noch auf dem Boden der demokratischen Verfassungen ihrer jeweiligen Heimatländer stehen. Die Methode: Einfach mitlaufen (versprochen: es wird sportlich!), Kamera läuft mit, unbequeme Fragen stellen, sich vor und nach den "Aktionen" auch mal auf ein längeres Hintergrundgespräch einlassen, bei Bier oder Pfefferminztee. Mein Einsatz: Zeit, ein offenes Ohr und die Bereitschaft zuzuhören. Lust mitzukommen? Dann klicken Sie oben auf den Link.

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Euronews-Reporter Hans von der Brelie unter Klima-Aktivisten in Lyoneuronews

Frankreich: Extinction Rebellion knöpft sich "Großverschmutzer" vor

Es geht los in Lyon, in Frankreich. Eleanor, unsere Praktikantin, weist mich auf ein unmittelbar bevorstehendes "Ding" (Details: unbekannt) von Extinction Rebellion, alias "XR" hin. Unter den seit wenigen Jahren überall aus dem Boden schießenden Klimaschutzgruppen ist XR so etwas wie ein "big player", vor Ort in Dutzenden Staaten, hunderten Städten, mit vielen zehntausenden aktiven Mitgliedern weltweit und unzähligen Unterstützern.

Auf einer Internetseite kündigt XR Frankreich an, sich die "Großverschmutzer" vorknöpfen zu wollen. Daneben eine Datumsangabe (ein Wochenende im Dezember) und eine grobe Ortsbestimmung: Großraum Lyon. Wer da einsteigen will, kann sich unkompliziert direkt auf der Webseite anmelden, unter präziser Angabe, bei was man alles bereit wäre, mitzumachen (im Angebot ist ein Menü von ganz legal und halb legal bis illegal, mit diversen Zwischenabstufungen).

Mit Schlaufon-Kamera und GoPro-Bodycam

Da die Zeit zu knapp ist, in letzter Minute ein E-Mail-Pingpong zu beginnen, suche ich nach einer funktionierenden Telefonnummer. Fehlanzeige. Der Hindernislauf beginnt. Letztendlich hilft der Umweg über ein sehr weit links stehendes, selbstverwaltetes Kulturzentrum. Von dort aus werde ich über Vertrauensleute weitergereicht bis zu einem der anonym bleibenden Organisatoren der bevorstehenden XR-Aktion. 

Nach einem ausführlichen Telefongespräch bekomme ich grünes Licht für meine Reportagedoku: Ich kann von Anfang an mit dabei sein, keine Selbstverständlichkeit das. Aber immer noch keine Info, wo und wann genau es losgehen soll. Ich soll mich über Signal, der chiffrierten Nachrichten-App, nochmal melden. Klar, wenn das etwas richtig Großes werden soll, gehört Geheimhaltung mit dazu.

Erst am Vorabend trudelt dann die Kurznachricht ein: Treffpunkt zur Frühstückszeit in einem alternativen Tanz- und Theaterclub in der Lyoner Vorstadt Vaulx-en-Velin. Ich lasse mich quasi "blind" auf die ganze Sache ein, ohne Detailabsprachen, ohne Ablaufplan, ohne Stativ und Licht, nur mit diskreter Smartphone-Kamera und einer kleinen GoPro mit Bodycam-Schultergurt. 

Im Gegenzug jede Menge Vorgaben und Einschränkungen: Das XR-Mastermind schärft mir ein, bei der Anreise zum Zielobjekt der Aktion absolut diskret zu bleiben, meine Kamera möglichst nicht offen zu zeigen. Und ob ich bei den Vorbereitungen filmen dürfe, solle ich vor Ort mit allen Beteiligten direkt abklären - was dann eine echte Kärrnerarbeit wird. Ich rechne mit ein paar Dutzend Aktivisten, doch innerhalb weniger Minuten füllt sich der große Saal hinter der Graffiti-Mauer mit weit über hundert Menschen.

"Uns bleibt keine Zeit mehr"

Aus ganz Frankreich sind sie angereist, Toulouse, Paris (ein Aktivist: "Ich habe schon bei der Eiffelturm-Aktion mitgemacht"), Aix-en-Provence, Saint Etienne, Grenoble, Marseille, Lille. Mir wird auf einmal klar, dass das heute doch eine Nummer größer wird, als ursprünglich angenommen. 

Ich packe mit an, trage ein paar abgewetzte Sessel, ein altes Sofa, viele Stühle, komme hier und da ins Gespräch mit den überwiegend, aber nicht ausschließlich jüngeren Menschen: Viele Studierende sind hier, aber auch jede Menge Menschen, die mit beiden Beinen fest im Berufsleben stehen. Also nicht "die typische Aussteiger-Szene", wie XR-Gegner auf den als "sozial" bezeichneten Medien gerne lästern, sondern quasi gemischtes Publikum. Linksliberales Bürgertum, hier und da auch ein paar Antifa, einige Jugendliche, vereinzelt ein paar konservative Umweltschützer mit Klimakollaps-Panik, Systemkritiker, Öko-Krieger, farblich von blassgrün bis rotgrün einzuordnen. Gemeinsamer Nenner: Wir müssen was tun. Denn, das Wort fällt unzählige Male, "uns bleibt keine Zeit mehr". Was die geheimnisumwitterte Großaktion betrifft, so weiß momentan keiner hier, was genau geplant ist.

Weg mit den Mobil-Smarties

Bevor eine Handvoll Koordinatoren die Bühne erklimmt, müssen alle ihre Smartphones abgeben – damit keine Details der Geheimoperation durchsickern. Jute-Sack auf, und rein damit! Denn es könnte ja sein, so die Befürchtung der Veranstalter, dass sich Polizeispitzel oder Nachrichtendienstler unter die Menge der angereisten Aktivisten gemischt haben. 

Nach kurzem Verhandeln darf ich meine Schlaufon-Kamera behalten, nachdem ich erklärt habe, dass keine SIM-Karte in dem Telefongerät steckt. Um Probleme zu vermeiden, darf ich kurz eine Ansage ins Handmikro machen, stelle mich und mein Reportageprojekt vor. Gemischte Reaktion, sehr viele wollen nicht gefilmt werden, einige andere haben nichts dagegen.

Jeder sucht sein persönliches Risiko-Level aus

An den Wänden hängen handgeschriebene Zettel: Geldstrafe, Gerichtsprozess, Gefängnis – oder was ganz Legales – jeder darf sich sein persönliches Risiko-Level aussuchen. Nach einer sehr präzisen juristischen Belehrung teilt sich die Menge in Gruppen auf. Da gibt es die, die legale Unterstützerarbeit vor Ort leisten wollen (klassisches Demoverhalten), andere sind bereit, Bußgeld oder Haft zu riskieren. 

"Wir werden uns einen großen Chemiekomplex der Seveso-Klasse vornehmen", kündigt die Stimme am Mikro (die ich übrigens nicht filmen darf) an. Nun, das ist ja schon mal eine Hausnummer, allerdings gibt es von dieser Sorte Unternehmen sehr viele im Lyoner "Chemie-Tal", wie das riesige Industriegebiet im Süden der Großstadt von Einheimischen genannt wird.

Im Halbdunkel des schlecht beleuchteten Raums blicke ich mich um. In der Ecke gleich neben dem Schild "Untersuchungshaft" lehnen ein paar Alu-Leitern, gut zu transportieren. Auf dem Boden stehen große Einkaufstaschen. Statt Brot, Butter und Bio-Eier sind darin riesige Kneifzangen gestapelt. Etwas weiter liegen Bauarbeiterhelme. Weiter im Angebot: große Softgetränkeflaschen, gefüllt mit knallbunt gefärbten Flüssigkeiten, Plastikkanister, Taschen voller Ganzkörper-Fließstoffschutzanzüge. Jemand gibt blaue Einweghandschuhe aus: "Damit ihr keine Fingerabdrücke vor Ort hinterlasst."

Neutraler Beobachter mit unbequemen Reisegepäckfragen

Etwas bange wird mir nun schon, "die volle Einbrecherausrüstung", geht mir durch den Kopf. Und die juristische Belehrung gerade eben war ja auch nicht von Pappe, denke ich auf einmal, hatte da nicht jemand was gesagt von "Geldstrafen bis zu 30.000 Euro" und der Option von "mehrjährigen Gefängnisstrafen"?

Logisch, als Journalist halte ich Distanz, an einer Straftat werde ich mich nicht beteiligen. Meine Rolle ist die des neutralen Beobachters. Meine Kamera dokumentiert ein Stück der Wirklichkeit. So, wie sie ist. Ohne dass ich den öffentlichen Raum des Legalen verlassen werde. 

Trotzdem, die Größenordnung der möglichen juristischen Folgen für einige der Klima-Aktivisten lässt es einem schon kalt über den Rücken laufen. Wie verzweifelt muss man sein, sich auf so ein Himmelfahrtsunternehmen einzulassen? Warum nicht einfach nur demonstrieren? Unterschriften sammeln? Oder bei einer Partei mitmachen, Kanzler werden, oder Präsident, dann alles ganz legal ändern? Reisegepäckfragen eben, wer will antworten?

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Warum diese Himmelfahrtsunternehmen?

Vigo und Domino sind bereit, dass ich mit ihnen mitlaufe und rede, falls Zeit zwischendurch, den ganzen Tag heute. Vigo hat kein Problem damit, gefilmt zu werden, auch ohne Maske. Domino agiert etwas vorsichtiger und behält während des Drehs ihre Wollkappe auf und ihr Halstuch ums Kinn geschlungen, auf der Nase die schwarze Covid-Maske.

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Vigo zeigt sich offeneuronews

"Ich stehe dafür ein"

Vigo kann gut klettern – und meldet sich zur Top-Risiko-Gruppe. Der junge Mann wirkt agil und auf unaufdringliche Weise sportlich, später erzählt er mir, dass er gerne Basketball spielt. Helle Haare, offener Blick, sympathisches Lächeln – und ein Deckname mit Ansage: hört sich an wie das englische "we go" oder wie der französische TGV "OuiGo". Vigo steckt voller Energie, das wird auf den ersten Blick klar. Und er kann schnell rennen – das ist wichtig für die Aktion.

Vigo schnappt sich einen der Hartschalen-Schutzhelme. Passt! Gleich soll es losgehen. Kurzes Interview vor dem Start: "Die Konsequenzen sind mir nicht allzu sehr bewusst. Ich weiß, dass das gefährlich ist. Ich bin bereit, dafür einzustehen. Und wenn ich 24 oder 48 Stunden lang in Untersuchungshaft komme, ich sage es nochmal, dann stehe ich dafür ein."

Undercover-Aktion wie Präzisions-Uhrwerk

Die Gruppenleiter (auch sie darf ich nicht filmen) erklären jetzt detaillierte Ablaufpläne – aber immer noch ohne Ortsangabe. Es wirkt wie eine surreale Mischung aus militärischer Undercover-Kommando-Aktion, präzisen Regie-Anweisungen für ein Reality-Theaterstück und Schweizer Präzisions-Uhrwerk, in dem jedes Zahnrädchen exakt ins andere greift: Wer soll wie per Leiter über welchen Zaun. Wer soll wo Metallgitter durchschneiden. Wer hat wie viele Minuten Zeit, um von A nach B zu laufen – und wieder zurück, bevor die Polizei vor Ort eintrifft. Solche Sachen eben…

Ein paar Meter weiter werden die Plastikkanister ausgegeben. Einer der Logistiker erklärt: "Das ist falsches Erdöl, etwas dickflüssig… Wenn du da oben bist, versuche das über eine Strecke von mehreren Metern auszuschütten, über die Dachkante runter."

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Eine Stimme ruft: "Wir brauchen noch ein paar Leute in der Graffiti-Gruppe." Dann gibt es Anweisungen, wie man sich im öffentlichen Raum bewegen soll: auf gar keinen Fall in Bus und Metro über die bevorstehende Aktion reden, besser einfach nur ein Buch lesen. Es werden Witze gerissen mit Buchtipps: Besser Adam Smith oder ein Buch der Chicago-Boys?

Warum machst Du mit?

Warum machst Du mit, frage ich Domino, die sich selber als "junge französische Bürgerin" bezeichnet. Die junge Frau meint: "Wir sind eine Minderheit, die versucht, sich aufzulehnen. Doch niemand hört uns zu. Deshalb wollen wir das selbst in die Hand nehmen. Wir haben jetzt unsere Instruktionen bekommen. Gleich geht’s los. "

Um nicht aufzufallen, teilen sich die Aktivisten in Kleinstgruppen auf und verlassen in zeitlich versetzten Abständen nach und nach den konspirativen Treffpunkt. Auto, U-Bahn, Bus, Straßenbahn, in der Großstadt haben sich die "Klimakrieger" rasch zerstreut. Ich bin mit Domino und zwei weiteren "Geheim-Aktivisten" erstmal zu Fuß unterwegs. Immer noch: unbekannten Ziel! Nur eine einzige Person in unserem Mini-Team hat ein Telefon dabei – und steuert uns über Geodaten-Infos, die von einem der Etappen-Koordinatoren nur häppchenweise ausgegeben werden.

Wir nehmen die U-Bahn. Erzählzeit. Die 20-jährige Domino kommt aus Südfrankreich. Eigentlich ein eher stiller Typ. Nach dem Abitur hat sie erst einmal eine Auszeit eingelegt, gezögert, überlegt, wie es weitergehen soll im Leben. Sie näht gerne Rucksäcke aus Plüschtieren, wägt ab, ob sie vielleicht ein kleines Unternehmen gründet.

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Domino kommt aus Südfrankreicheuronews

Heute macht Domino mit bei ihrer dritten Geheimaktion. Und sie wirkt nervös. "Du stehst schon irgendwie unter Spannung, oder…?", will ich wissen. Domino gibt zu: "Ich habe schon etwas Angst. Dieser Test hier wird ganz schön hart." 

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Unser Lotse schickt uns einmal quer durch den Großraum Lyon. Wir steigen um in einen Bus Richtung Pierre Benite, der Chemie-Vorstadt im Südwesten Lyons. Dann endlich die entscheidende Info. Wow! Das Ziel heißt Arkema: ein Chemie-Riese der Hochrisiko-Klasse. Ich muss schlucken.

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Das Ziel heißt Arkema: ein Chemie-Riese der Hochrisiko-Klasseeuronews

Wir rennen los

Jetzt geht auf einmal alles sehr schnell. Raus aus dem Bus. Wir rennen. Eine sichtgeschützte Hecke. Rein in die weißen Schutzanzüge. Domino flucht, sie hat in der Eile Schwierigkeiten, in den Anzug einzusteigen. Adrenalin schwappt hoch. "Beeilt Euch", ruft jemand. Die Aktivisten ziehen an ihren Gesichtsmasken, sitzt, jetzt der Endspurt über die steile Metalltreppe einer Eisenbahnüberführung, Blick über die gigantische Chemie-Anlage unter uns.

Die XR-Kundschafter haben die Überwachungssysteme und Gebäudekomplexe der Fabrik offenbar detailliert ausspioniert. Die Aktivisten verfügen über präzises Wissen, wo auf dem Fabrikgelände welche Feuerleitern sind. Wo die Wachleute ihre Runden drehen. Wann die Polizei eintreffen wird.

Exakt 29 Minuten

Domino, Vigo und die geschätzt 130 XR-Aktivisten wissen: Sie haben nur wenige Minuten Zeit. Laut Ablaufplan 29, um genau zu sein. Dann müssen sie wieder draußen sein.

Ich selber bleibe vor der Fabrik, auf öffentlichem Grund und Boden. Filme von dort. Aber einer der Aktions-Menschen klettert mit GoPro durch die Lücke im Metallgitter. Schweres Atmen. In der Hand ein Plastikkanister. "Zeig Deinen Mut! Nimm Deine Maske ab! Komm her", ruft einer der Wachleute, als die ersten Eindringlinge entdeckt werden. 

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Perfluorkohlenwasserstoffe in der Muttermilch

Die Gruppen teilen sich: Während einige direkt auf die Sicherheitsleute zulaufen, quasi als Ablenkungsmanöver, schaffen es einige wenige andere – wie geplant – unbemerkt weiter auf das Gelände vorzudringen. Eine Person klettert über eine schmale Treppe auf einen der Industrietürme der Chemiefabrik, eine andere sprintet auf das Dach des Verwaltungsgebäudes. Protestbanner werden entrollt, das "falsche Erdöl" über Fassaden gegossen.

Die Umweltaktivisten kritisieren die von Arkema verursachte jahrelange Verschmutzung von Grundwasser, Muttermilch und Rhône (der Fluss, der durch Lyon fließt) mit Perfluorkohlenwasserstoffen. Der Skandal köchelt bereits seit Monaten immer wieder hoch, das öffentlich-rechtliche Fernsehen Frankreichs hat selbst Schadstoffmessungen neben der Fabrik durchgeführt, Präfektur und Aufsichtsbehörden schalteten daraufhin einen Gang hoch: Es gibt mittlerweile einen Arkema auferlegten Ausstiegspfad, mit präzisen Daten. Doch XR reicht das nicht, die Gruppe geht einen Schritt weiter, fordert, dass auf Kosten des Unternehmens großflächig Böden saniert und Anwohner entschädigt werden müssten.

Egal wo in Europa: Die Aktionen sind spektakulär

Wer sich XR-Aktionen ansieht, der kommt auf den gemeinsamen Nenner, egal wo in Europa: Es muss groß sein. Spektakulär. Symbolträchtig. Der Feind hat einen Namen: fossile Energieträger (und alles, was damit zusammenhängt, vom Autoverkehr bis hin zur Petrochemie). Das von den Planern ausgegebene Timing ist erstaunlich genau: Nach exakt 29 Minuten sind Martinshörner zu hören, Blaulicht nähert sich.

Die Aktivisten sind ohne Ausweisdokumente unterwegs. Wer an einer illegalen Aktion direkt auf dem Betriebsgelände mitgemacht hat, mischt sich unter die Gruppe der legalen Demonstranten, die vor der Fabrik geblieben sind. Auch das ist Teil des Plans. Damit wird es der Polizei erschwert, Straftaten einzelnen Personen zuzuordnen. Die Karawane der CRS-Transporter – CRS steht für Compagnie Républicaine de Sécurité und ist so etwas wie Frankreichs schnelle Eingreiftruppe, wenn bei Großveranstaltungen etwas aus dem Ruder läuft – bremst neben den jetzt ruhig wartenden XR-Aktivisten.

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Aktivisten vor Arkema nach der Aktioneuronews

Interview mit Domino im Polizeikessel: "Ich persönlich wünsche mir einen grundlegenden Wandel, doch die Regierung redet nur, statt zu handeln." Die Versuche der Ordnungskräfte zur Aufnahme der Personalien ziehen sich stundenlang hin, auch das haben die Planer mit einkalkuliert: Jetzt kommen die Kartenspiele zum Einsatz, um sich das Warten zu verkürzen.

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"Ich persönlich wünsche mir einen grundlegenden Wandel, doch die Regierung redet nur, statt zu handeln."
Domino
Umwelt-Aktivistin

Da ich selbst an dem illegalen Teil der Aktion nicht beteiligt war und einen offiziellen Presse-Ausweis habe, kann ich nach einigem Hin und Her und kurzer Personalabfrage im Polizeicomputer wieder heraus aus dem Kessel. Zwischenstopp in der Euronews-Sendezentrale, wo ich kurz ein Stück für die Nachrichtenredaktion zusammenschneide.

20 Festnahmen und Party im Ponyo

Präfektur und Arkema verurteilen die XR-Aktion, verweisen auf den von den Behörden auferlegten Ausstiegsplan aus der gefährlichen Chemikalie und die Direktion von Arkema kündigt gegenüber Euronews an, Klage gegen die Aktivisten einreichen zu wollen. Die Präfektur spricht von insgesamt 20 Festnahmen.

Auf meiner chiffrierten Signal-App poppt wieder eine Nachricht auf: Party im Ponyo. Also immer noch kein Feierabend für den Reporter. Mit der Straßenbahn fahre ich zu der kleinen Szene-Kneipe in Villeurbanne, gleich neben Lyon. Nach und nach trudeln Nachzügler ein, darunter die 20 Aktivisten, die nach kurzem Polizeigewahrsam abends wieder freigelassen wurden. Begeisterung in der Aktivisten-Kneipe, Sprechchöre mit XR-Rufen, gute Laune, die Musik ist auch nicht schlecht, jetzt wird gelacht, geredet, getrunken, getanzt.

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Party im Ponyoeuronews

"Demokratie ist die Grundlage"

Extinction Rebellion steht in der Kritik. Viele Menschen fragen sich: Sind das jetzt harmlose Klima-Schützer oder linksradikale Revoluzzer, die den Kapitalismus bekämpfen wollen? Hier in der Kneipe findet sich beides. Aber Vigo zumindest glaubt an die Demokratie und ist – der Einschätzung des Reporters vor Ort zufolge – damit in der Mehrheit.

Aber warum machst Du dann nicht einfach mit in einer politischen Partei, will ich unter anderem wissen. Vigo, der eine Ingenieurs-Schule besucht, sieht Blockaden bei den Institutionen, im Polit-Betrieb: "Ich bedauere diese Blockade wirklich." Gleichzeitig treiben ihn die fehlende Zeit (das CO₂-Emissions-Budget der Menschheit ist fast aufgebraucht) und ein starkes Gerechtigkeitsgefühl zum Handeln. Überspitzt formuliert könnte man sagen: Vigo ist aus gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl heraus bereit, das Gesetz zu brechen. "Wir setzen uns für Anliegen ein, die mir gerecht scheinen, da stehen wissenschaftliche Studien dahinter."

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"Wir setzen uns für Anliegen ein, die mir gerecht scheinen, da stehen wissenschaftliche Studien dahinter."
Vigo
Umwelt-Aktivist

Und wie ist das jetzt mit der Demokratie? Willst Du die abschaffen? Träumst Du nicht manchmal von einer Öko-Diktatur oder so was? Nein, das ist nicht das Ding von Vigo, klare Antwort: "Demokratie ist die Grundlage für alles. Ohne Demokratie wäre das viel weniger machbar. Allerdings blockiert die derzeitige Regierung die Situation noch viel mehr."

"Ich habe mich engagiert, weil sich andere Menschen vor mir engagiert haben, mit einer Botschaft, die mir etwas sagt, die mich berührt hat, die ich weiterreichen möchte. In gewisser Weise bin ich eine Art Botschafter für eine Welt, die vielleicht etwas engagierter und etwas schöner ist."
Vigo
Klima-Aktivist

Trotz Klimanotstand, Hitzewellen, Überschwemmungen und Angst vor dem drohenden Kollaps in einigen Jahrzehnten, wirkt Vigo fröhlich, strahlt jugendliche Zuversicht in seine eigenen Handlungsmöglichkeiten aus. Dein Traum? Nach kurzem Überlegen gibt Vigo an die Theke gelehnt mit sanfter Stimme eine durchdachte Antwort: "Ich habe mich engagiert, weil sich andere Menschen vor mir engagiert haben, mit einer Botschaft, die mir etwas sagt, die mich berührt hat, die ich weiterreichen möchte. In gewisser Weise bin ich eine Art Botschafter für eine Welt, die vielleicht etwas engagierter und etwas schöner ist." 

Emotion schwingt mit in seinen Worten. Das sind keine Slogans. Der auf einmal sehr ernsthafte junge Mann meint, was er sagt. Das glaube ich ihm.

Kein Staatsstreich geplant

Es ist spät geworden, ich verlasse das Ponyo, drehe mich im Dunkel der Nacht noch einmal um, sehe hinter den beschlagenen Scheiben des Bistrots die Schemen der Tanzenden, leise ist noch etwas Musik zu hören, linke Folkloreschlager. Nein, einen Staatsstreich planen die Jungs und Mädels hier nicht.

Die Aktivistenwelt ist groß und sehr bunt

Und anderswo? Die Aktivistenwelt ist groß und sehr bunt, neben XR existieren unzählige Klimaschutzbewegungen, kleine, große, junge und etwas ältere. Greenpeace, sozusagen die Matrix aller "Klimakrieger", lasse ich mal außen vor bei dieser Reportage, biblisches Alter, kennen alle schon. Nein, ich will gezielt reinschnuppern in die Gedankenwelt der Nachwuchsgruppen. Was geht ab bei den Jungen, den Organisationen, die erst vor Kurzem gegründet wurden?

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Nächstes Ziel der Europatour: Lützerath in Deutschland

Erst seit etwa einem Jahr gibt es – nächstes Ziel meiner Europatour - die Letzte Generation. Nicht nur in Deutschland. Die Gruppe hat mittlerweile Ableger in mehreren Ländern, beispielsweise – sehr aktiv! – in Italien.

 Ja, ja, die "Klima-Kleber", wird auch der eine oder andere Berliner oder Münchner genervt seufzen. Aber Sie dürfen gerne weiterlesen, auch als Autofahrer.

Kleben - Hämmern - Sägen

Ich nehme den Zug von Lyon nach Köln. Dann geht es weiter nach Lützerath, ein Dorf am Rande der Kohlegrube Garzweiler in Westdeutschland. Das war so eigentlich nicht geplant. Nach einigen Telefonaten und E-Mails hatte ich mit einigen der Koordinatoren der Gruppe zunächst an Berlin gedacht. 

In der deutschen Hauptstadt wird quasi ständig geklebt, dort hat die Gruppe auch die größte Zahl an aktiven Mitgliedern, so um die 400 bis 600, es gibt unterschiedliche Schätzungen. Auf den Klimanotstand machten die Berliner in den vergangenen Wochen nicht nur mit Straßen-Klebe-Aktionen aufmerksam, sondern entfalteten eine bemerkenswerte Kreativität der Aktionsformenwahl: Hebebühne anmieten und Spitze des riesigen Hauptstadtweihnachtsbaumes absägen! Presslufthämmer ausleihen und Straße vor Ministerium aufreißen! Action, hammerhart…

Solidarisierung

Doch dann wird Deutschlands Klimaprotestbewegung aufgerüttelt von der Ankündigung, dass Mitte Januar das von Kohlegegnern besetzte Lützerath geräumt werden soll. Es kommt zu einem erstaunlichen Solidarisierungseffekt quer durch die Bundesrepublik. 

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Groß- und Kleingruppen unterschiedlichster Provenienz und Militanz schließen sich zu einem "Unräumbar-Bündnis" zusammen, auch die Letzte Generation schließt sich dem an. Ziel der Mobilisierung: Es soll eine möglichst große Zahl von Aktivisten und Unterstützern vor Ort am Tagebau sein. Und die Bündnis-Schmiede rechnen auf Synergie-Effekte: Kletterer und Kleber, Plakatmaler und Protestprofis sollen sich ergänzen.

Als ich in Lützerath eintreffe, hat die Polizei bereits mit der Räumung des kleinen Dorfes begonnen. 

Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier im Braunkohlerevier für Euronews unterwegs bin. Hambacher Forst, Garzweiler Baggerblockade – hier sind die Links zu den Reportagen. 

Noch demokratisch?

Aber mir geht es diesmal nicht um den Kohlekonflikt an sich, sondern um die Klima-Aktivisten und ihr Demokratieverständnis. Bei einem (kleinen) Teil der Klimabewegung hat der Verfassungsschutz beunruhigende Radikalisierungstendenzen konstatiert. In der öffentlichen Debatte wird gelegentlich auf (vereinzelte) personelle Überschneidungen zwischen „Ende Gelände“ (einem der großen Hauptakteure der Tagebaublockaden) und linksextremistischen Grüppchen etwa aus dem norddeutschen Raum verwiesen.

Aber, und das muss an dieser Stelle betont werden, es scheint sich hier nicht um eine allgemeine, großflächige Radikalisierung zu handeln, ganz im Gegenteil: Die allermeisten der Akteure vor Ort betonen ihre Demokratie-Affinität - lassen diesem Bekenntnis zum Grundgesetz allerdings jede Menge "aber" folgen: Verflechtung von Industrie und Politik, Problemdruck ignorierende Behäbigkeit bei politischen Entscheidungsfindungen, Selbstblockade der Koalitionsparteien, Verwässerung bei der Umsetzung angekündigter und beschlossener Klimaschutzziele.

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Dürfen die das?

Bleibt die Frage: Dürfen die das? Unter Juristen ist umstritten ob es sich bei den Aktionen der "Letzten Generation" um "Nötigung" handelt oder nicht. Teil der Definition von Nötigung im strafrechtlichen Sinne ist das Adjektiv "verwerflich" - und wie bei den meisten Adjektiven, bietet sich auch hier ein weites Interpretationsfeld an. 

Handeln die Aktivisten verwerflich? Sind ihre Beweggründe verwerflich? Je nach Amtsgericht und Lesart fallen deshalb auch die Urteile zu LG-Aktionen sehr unterschiedlich aus. Ach ja, es ist schon ein Kreuz mit der Juristerei, der Philosophie, der Moral: Was ist gut? Was ist bös?

Kriminelle Vereinigung?

Auch beim Vorwurf, dass es sich vielleicht um eine "kriminelle Vereinigung" handeln könnte, herrscht keine einheitliche Lesart des Gesetzes, ganz im Gegenteil, die Mehrheit der deutschen Staatsanwaltschaften folgt dieser Auslegung der Paragraphen offenbar nicht.

Bitte mit Doppel-T

Auf einem Sportplatz außerhalb der Sperrzone um Lützerath habe ich mich mit Joel Schmitt verabredet. Der Student der Wirtschaftswissenschaften ist einer der Köpfe der Letzten Generation (wobei angemerkt sein soll: die Gruppe hat viele Köpfe). Im Unterschied zu Vigo und Domino in Lyon nennt Joel seinen bürgerlichen „richtigen“ Namen und gibt Hilfestellung beim Buchstabieren: Schmitt mit Doppel-T.

Letzte Generation kämpft mit offenem Visier

Die Letzte Generation kämpft mit offenem Visier, niemand versteckt sich, keine Vermummung. Irgendwie muss man an Luthers Jugendjahre denken, dieses Wittenberg-Ding, dass der damals gedreht hat (Sie erinnern sich: Kirchentüre, Hammer, Nagel, dann diese provokanten Thesen gegen Ablasshandel und Korruption): "Hier stehe ich und kann nicht anders!"

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Auf Joel und seine Mitstreiter der Letzten Generation umformuliert müsste man sagen: "Hier klebe ich und kann nicht anders!" - Wirklich? Geht es denn nicht auch anders? Womit wir wieder bei meinem Fragenkatalog im Reisegepäck sind.

Extrem umstrittende Aktionen

Auch wenn der Satz in diesem Text öfters vorkommt, so muss er doch gelegentlich wiederholt werden: Diese Aktionen sind extrem umstritten. Gegner bezeichnen Joel und die Aktivisten der Letzten Generation mit abfälliger Degoutanz als "Klima-Kleber", rutscht man in den angeblich "sozialen" Medien in einen dieser gruseligen Klebe-Chats, fällt mit beunruhigender Frequenz auch das Wort "Klima-Terrorist" (meist, aber nicht immer, aus der braunen Ecke). Ach ja, "Klimaterroristen" ist übrigens das "Unwort" des Jahres 2022...

Zurück zu Joel auf dem Sportplatz. Sieht nicht aus wie ein Terrorist, mal ganz ehrlich. Offener Blick. Bedächtige Sprache. Personifizierte Freundlichkeit.

Schlammwüste

Sportplatz ist jetzt übrigens ebenfalls das falsche Wort, Matschplatz trifft es besser. Knöcheltiefer Schlamm. Eisiger Nieselregen. Nur gut, dass ich auf Joels Warnung gehört habe: "Bring feste Schuhe mit, am besten Stiefel!" Mit meinen Bergschuhen arbeite ich mich also vor durch diese Schlammwüste, hunderte kleine Schlafzelte, in der Mitte ein Grüppchen Unvermummter - was auffällt, da hier überall Menschen mit Vermummung rumlaufen, sehr viel schwarz überall, unfreundliche Blicke, sobald ich meine Kamera betätige. Freundlich lächelnde Ausnahme: Joel und seine Gruppe, alles Mitglieder der Letzten Generation. Nette Menschen, kein Versteckspiel: "Klar, filmen geht in Ordnung." – "Ja sicher, mit Gesicht, warum auch nicht."

Joel bespricht mit den anderen Aktivisten Details der kommenden Aktionen, ich darf zuhören, mir wird Vertrauen geschenkt. Auch das nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit hier im Aktivisten-Camp, in dieser aufgeheizten Stimmung am Rande des Tagebaus. Anschließend hat Joel eine knappe Stunde Zeit, wir setzen uns zusammen, die Kamera lasse ich erstmal aus, mache mir mit Kugelschreiber und Papier ein paar Notizen. Gegenseitiges Kennenlernen, Vorgespräch, Zuhören, Reden.

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23-jährige Joel kommt aus Freiburgeuronews

Was läuft grundlegend falsch?

Der 23-jährige Joel kommt aus Freiburg. Sein VWL-Studium hat er aus echtem Interesse an der Materie gewählt: Was läuft falsch in unserem Wirtschaftssystem? Die Frage treibt den hochintelligenten jungen Mann ernsthaft um. Schon seit seiner Kindheit. 

"Als ich acht Jahre alt war, hat mir meine Mutter erzählt, wie viele Fußballfelder an Regenwaldfläche jeden Tag gerodet werden", taucht Joel ein in seine Erinnerungen. "Damals wurde mir klar, dass sich etwas grundlegend ändern muss in der Art und Weise wie wir leben und wirtschaften."

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Klebeaktion in Lützeratheuronews

Warum nicht Normaldemo?

Warum klebt Ihr Euch fest? Warum nicht einfach "normal" auf der Straße demonstrieren, wie man das halt so macht, wenn man öffentlich auf ein Problem aufmerksam machen möchte: großes Spruchband, Flüstertüte, Soundsystem, Flugblätter, Unterschriftenlisten, Sprechchöre, Eingaben, offene Briefe, Trillerpfeifen, bunte Plakate.

Joel erinnert an die Giga-Demo 2019 von Fridays for Future, damals seien weit über eine Million Menschen auf die Straße gegangen, eine für bundesrepublikanische Verhältnisse schier unglaublich große Zahl von Demonstrierenden. "Und was macht die Regierung? Verabschiedet ein Mini-Paket zum Klimaschutz, dass dann vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig einkassiert wird."

Politik zum Handeln zwingen

Ich frage nach, bringe meine "Warum-wirst-Du-nicht-selbst-Bundeskanzler?"-Frage an den Mann, oder zumindest: Mitmachen bei einer Partei könnte doch auch was ändern, oder?

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Joel: "Ganz ohne Konfrontation kann das nicht gelingen." Mit "das" sind gemeint: Energiewende, Zeitenwende, Klimarettung. Joel weiter: "Mit unseren Aktionen wollen wir die Dringlichkeit des Problems in die Gesellschaft hineintragen." – Was die Gesellschaft zu ärgern scheint, sieht man sich die Autofahrer-Reaktionen auf die Klebe-Aktionen an, doch das ist mit eingepreist im Kalkül der Gruppe: "Unser Ziel ist nicht, gemocht zu werden. Unser Ziel ist es, die Politik zum Handeln zu zwingen." Joel weiter: "Es braucht Menschen, die Druck auf die Parteien ausüben."

Wir rasen Richtung Klimahölle

Jetzt schalte ich doch mal meine Kamera an. Joel sagt: "Wir sind einfach in einer Situation, wo wir auf eine Klimahölle zurasen. Wir fungieren ähnlich wie ein Feueralarm: Wenn ein Feueralarm losgeht, finden das die Menschen auch nicht super-toll. Aber wenn uns der Feueralarm vor einem Brand warnt, dann sind wir doch froh, dass es diese Warnung gibt." – Klingt gut… und auch ein wenig einstudiert (ich habe den Verdacht, dass der Satz in einem gruppeninternen Medientraining vorab auswendig gelernt wurde). 

Doch Joel, der kein Mitglied einer politischen Partei ist, meint es ehrlich, das spürt man. Ein Blick in meinen Notizblock: "Entweder, die Politik macht endlich Ernst mit dem Klimaschutz, dann hören wir auf mit unseren Protesten… oder alles geht weiter wie bisher und dann müssen die uns eben ins Gefängnis stecken." – Ziel der Aktionen im öffentlichen Raum sei eine "Skandalisierung" des regierungsamtlichen Nichthandelns in Sachen Klimaschutz.

Nochmal ins Gefängnis

Es wird langsam ungemütlich, die Winterkälte dringt durch die klamme Kleidung. Der Tee im Becher ist längst kalt geworden. Ich bringe das Gespräch auf die Hausdurchsuchungen: Unlängst gab es im gesamten Bundesgebiet von der Staatsanwaltschaft angeordnete Razzien bei Mitgliedern der Letzten Generation. Es bestehe ein "Anfangsverdacht" zur Bildung einer "kriminellen Vereinigung". Was Joel als Einschüchterungstaktik versteht. Ich schalte wieder meine Kamera ein:

"Wir lassen uns weder von Hausdurchsuchungen, noch von Gewaltandrohungen, noch von Gefängnisstrafen davon abhalten, für eine gute Zukunft zu kämpfen. - Ich war 23 Tage jetzt im Gefängnis und bin in der Woche danach direkt gleich wieder an dieselbe Stelle an dieselbe Straße gegangen (und habe mich dort wieder fest geklebt) und kam nochmal eine Woche ins Gefängnis."

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Ein Guter oder ein Böser?

Wer ist Joel? Ein Idealist? Ein Krimineller? Ein Verzweifelter? Ein Selbstgerechter? Ein Böser? Oder doch ein Guter? Ein guter Böser? Ein böser Guter? Ein guter Guter - in einer bösen Welt? In der Gruppe, die ich zwei volle Tage lang begleite, habe ich schnell meinen Ruf als "der Mann mit den philosophischen Fragen" weg. Na ja, seis drum. Die Fragen sind trotzdem gut, finde ich. Nachdenkfutter für Joel, ohne Medientraining diesmal.

Ich rede gerne mit dem Mann, schon alleine des bedächtigen Sprechtempos wegen, im Alltagsgespräch merkt man: Joel denkt zuerst, redet anschließend (in meinem Beruf als Reporter treffe ich ja leider nur allzu oft Menschen, die die umgekehrte Reihenfolge bevorzugen). "Menschen wollen Sinnvolles für andere Menschen tun." Das ist so ein typischer Joel-Satz, etwas gestelzt klingend, aber durchdacht und – na ja – wie soll man den Sachverhalt auch anders formulieren? 

Warum macht der das für mich?

Nach seinem Gefängnis-Aufenthalt habe er auf einmal Rückmeldung von vielen Leuten bekommen, von Freunden aber auch von Gegnern der Letzten Generation. Joel: "Die Menschen beginnen sich zu fragen: Warum macht der das für mich?" Denn Kern seines Handelns ist auch hier, wie bei Domino und Vigo in Lyon, ein zutiefst verankertes Verantwortungsgefühl – für andere Mitmenschen, für das Klima, für das Überleben der Menschheit.

Aktionstraining mit Joel

Joel muss weiter, ich komme mit. Im Zeltcamp der Braunkohlegegner trainiert er heute Nachmittag potenzielle Neu-Mitglieder: Wie redet man mit aggressiven Autofahrern? Dann gibt es Tipps zum Wegtragenlassen. 

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2022 haben die Klima-Aktivisten 276 Straßenblockaden in Deutschland durchgeführt. Joel ist da mittlerweile Profi, kennt sich aus mit Paragraphen, Sekundenklebern, Alltagspsychologie.

Joel und seine Freunde stehen mit ihrem Namen und Gesicht ein für das, was sie tun. Lächeln statt Straßenschlacht. Im feuchtklammen Trainingszelt sitzen dicht gedrängt auf schmalen Biertischbänken Menschen, die Joel noch nicht alle kennt, etwa die Hälfte von ihnen ist vermummt. "Wir agieren offen", sobald der Satz fällt, erhebt sich die große Gruppe der Vermummten und geht. LG ist wohl nicht ganz der Geschmack von Antifa und BlackBlocks. Den Verbleibenden erklärt Joel den Gruppenkonsens der Letzten Generation:

Wir sind freundlich zu Polizisten

"Wir probieren tatsächlich dann, wenn wir von der Straße getragen werden, zu kooperieren und freundlich zu der Polizei zu sein. Unser Konsens ist einfach, dass wir auch die Polizei gewinnen wollen." Joel lächelt: "Ihr müsst denen ja nicht eine Rose oder so mitbringen, ihr müsst auch nicht Danke sagen, wenn ihr geräumt wurdet, aber wir beschimpfen die auf jeden Fall nicht." 

Ein Thema auf das Joel länger eingeht, eine bewusste, explizite Deeskalationsstrategie nach dem Motto: Auch Polizisten sind Menschen. Manchmal ergäben sich am Rande der Aktionen interessante Diskussionen. Und offene Freundlichkeit würde von den meisten Beamten dann eben auch zurückgespiegelt. Kurz: Hart in der Sache (wir kleben uns an) aber mit einem Lächeln auf den Lippen (wir bleiben freundlich).

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Weggetragen von der Polizeieuronews

Fehlschlag

Heute Abend will die Gruppe einen Polizei-Konvoi stoppen. Damit soll anderen Aktivisten geholfen werden, die Kohlemine lahmzulegen. Doch diesmal scheitert die Aktion, die Polizei fährt einen Umweg. Auf dem Rückweg durch das Nachtdunkel ist Zeit für ein weiteres Gespräch mit Joel. Was wollt Ihr eigentlich konkret erreichen?

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Joel: "Wir fordern seit Oktober die Wiedereinführung des 9-Euro-Tickets, und ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf deutschen Autobahnen. Das sind Ziele, die sofort umsetzbar sind."

Todeszonen

Tagelanges Zelten im Schlamm, Eisregen, kaum Schlaf, Aufstehen um vier Uhr „morgens“, bereit zur ersten Klebe-Aktion noch vor dem Morgengrauen, also lustig ist es nicht gerade, das Aktivisten-Leben. Doch Joel ist, wie schon erwähnt, Altruist, für ihn ergibt das Sinn: Er opfert seine Energie, seine Zeit, seine Jugend, seinen eisernen Willen, sein diplomatisches Geschick, seinen Mut für das Überleben der Menschheit.

Ok, ok, wer das jetzt liest, wird sich denken: "Total überzogenes Pathos." - Na ja, aber darum geht es ja: Um das Überleben der Menschheit. Noch zu organisieren? Oder too late? Und wenn doch noch nicht zu spät, dann eben die Frage: Wie und wer organisiert? Ich denke kurz zurück an die erste Station dieser Reise, auch dort war vom "Versagen der Institutionen" die Rede. 

Ich darf – sogar mit Kamera – einen Blick in Joels kleines Schlafzelt werfen. Zahnpasta, ein Laptop, eine Stirnlampe, ein Schlafsack, dicke Ersatz-Socken. Durch den nachts hart gefrorenen Boden dringt Kälte. Doch Joel hat damit kein größeres Problem, auch wenn er von einer warmen Dusche träumt. 

Joel hat schon einiges durchgemacht. Auch anderswo: "Ich hatte ein sehr einschneidendes Erlebnis als ich ein freiwilliges soziales Jahr in Ghana gemacht habe und dort so eine Karte gesehen habe, welche Todeszonen um den Äquator entstehen, wenn wir weiterhin so viel CO₂ emittieren. Und dann habe ich erstmal für mich beschlossen, nicht mehr zu fliegen, was zur Folge hatte, dass ich mir ein Bambus-Fahrrad dort gekauft habe und mich auf den Weg von Ghana nach Deutschland mit dem Fahrrad gemacht habe." Der spontane Rad-Trip durch Afrika endete dann "leider bereits nach 4000 Kilometern", wegen der geschlossenen Grenze der Westlichen Sahara. Doch Joels Lebensentschluss blieb: Wir müssen das Klima retten und wir müssen das jetzt tun. "Deshalb habe ich mich dann in Deutschland der Letzten Generation angeschlossen", so Joel, der diesen Schritt als politisches Handeln versteht.

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Heute kommt Greta

Tag Zwei. Die Regentropfen auf den Zeltplanen im Camp haben sich in Eisbrillanten verwandelt, das Lager begrüßt mich im ersten Licht der aufgehenden Sonne mit dem funkelnden Lächeln gefrorener Tropfen. Joel ist sich sicher: "Heute klappt es", nuschelt er beim Zähneputzen im Gehen, er hat es eilig, wir sind spät dran.

Auch aus den anderen Zelten kriechen Menschen. Einige Grüppchen sind bereits in der Nacht aufgebrochen Richtung Großaktion. In der kalten Luft liegt eine Mischung aus Kaffeeduft, Nervosität und Aufbruchstimmung. Auf geheimen Kanälen ist durchgesickert: Greta Thunberg, die Klimaschutzaktivistin aus Skandinavien, der "Star" der Szene, wird mit einer anderen Gruppe in den Tagebau eindringen.

Schützenhilfe für Greta

Um die Polizei von Greta abzulenken, startet Joels Team ein stundenlanges Katz- und Mausspiel. Sehr auffällig und sichtbar geht die Gruppe der Letzten Generation durch den Ort, steigt in einen angemieteten großen Reisebus. Es sieht aus, als ob die Gruppe aufgibt, abfahren will, zurück nach Hause, Richtung warme Dusche. Alles nur gespielt...

Der Reisebus wird von einem Großaufgebot an Polizeikräften begleitet, die sichergehen möchten, dass die Gruppe wirklich abreist. Vor und hinter dem Bus fahren mehrere Mannschaftswagen, ich versuche zu zählen, soweit der Blick reicht, komme auf mindestens sieben Mannschaftswagen, es könnten auch mehr sein. Blaulicht an, und los geht’s Richtung Autobahn. 

Es beginnt ein Theaterspiel mit einstudierten Rollen. Am Bahnhof des nächsten Städtchens biegt der Bus ab, hält vor dem Gleis, die Mannschaftswagen sind immer noch präsent. Eine kleine Aktivistengruppe steigt aus, studiert – weithin sichtbar – den Fahrplan der Deutschen Bahn und kehrt, Enttäuschung spielend, zurück in den Bus. Zug nach Hause verpasst – also Weiterfahrt mit dem Reisebus auf der Autobahn Richtung Mönchengladbach. 

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Zivilfahnder abschütteln

Die Zeit dehnt sich, die Polizeieskorte dünnt sich aus. Dann biegen wir plötzlich ab in eine LKW-Bucht, legen eine sehr lange Toilettenpause ein. Wieder auf der Autobahn sind die Mannschaftswagen der Polizei verschwunden, allerdings hängen noch ein oder zwei Zivilfahnder hinter dem Bus (die Aktivisten haben sich gleich zu Beginn die Nummernschilder der Autos im Schlepptau des Buses notiert). Doch nach einigen Kilometern Dreingabe ziehen auch diese letztendlich auf die Überholspur und sind weg. Polizei-Eskorte und Zivilfahnder sind abgeschüttelt, der Aktivisten-Bus kehrt um und fährt zurück zum Braunkohletagebau Garzweiler.

Während die Aktivisten für die nun unmittelbar bevorstehende Großklebeaktion ihre Banner falten und schon einmal vorsichtig die Verschlüsse der Sekundenklebertuben öffnen, gibt Joel noch ein kurzes Kamera-Statement: "Wir wollen nicht am Ende irgendwie einen Orden bekommen für unsere Aktion – sondern wir wollen, dass Klimaschutz durchgesetzt wird."

Tagebau Garzweiler: eine der umstrittensten Kohleminen Europas

Jetzt wird es ernst. Ziel ist der Tagebau Garzweiler, eine der umstrittensten Kohleförderstätten Europas. Der Bus hält am Parkplatzzubringer einer Aussichtsplattform für Kohletouristen, die Stelle ist perfekt gewählt, denn genau hier zweigt auch die Zufahrt für das Großgerät Richtung Mine ab. Die Aktivisten klettern aus dem Bus, setzen sich auf den Asphalt, kleben sich fest, sozusagen im Handumdrehen. 

Einige der Aktivisten haben Spezialspray mitgebracht, damit soll die Wirksamkeit des Klebstoffs verstärkt werden (allerdings brennt das Zeugs ganz schön auf der Haut). Alle haben ein Wärmekissen dabei (der Asphalt ist kalt, das Warten lang). Ein Helfer legt Rettungsdecken um Hüften und Hände, um ein Auskühlen der Körper in der Winterluft zu vermeiden.

Wir möchten es skandalisieren

Die Braunkohlebrummis müssen kehrt machen. Die Trucks kommen nicht durch zum Tagebau. Erste Polizeifahrzeuge treffen ein, da es jedoch zu spät ist, die Klebeaktion noch zu verhindern, bleiben die Polizisten erst einmal auf Distanz, über Funk werden Verstärkung und das polizeiliche Entklebe-Team angefordert. Also Zeit für ein weiteres Kurzinterview mit Joel.

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Zwar betont Joel, dass er – das Wortspiel sei erlaubt - auf dem Boden der Verfassung klebt und Demokrat ist. Andererseits geht ihm alles zu langsam, weshalb er die Einrichtung von Bürgerräten fordert. Nach dem Losprinzip ausgewählte Menschen sollten mitwirken bei wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Das Instrumentarium der repräsentativen Demokratie sollte durch Elemente der direkten Demokratie, Beispiel Volksabstimmungen, ergänzt werden.

Und warum macht ihr jetzt konkret hier in Garzweiler mit, will ich von Joel wissen, statt auf der Autobahn vor Berlin oder München zu kleben? Joel: "Wir möchten es skandalisieren, dass heute, im Jahr 2023, noch ein Dorf abgebaggert wird, um Braunkohle zu gewinnen." Der Kohlekompromiss zwischen Regierung und RWE sei eine Farce – es werde dieselbe Menge Braunkohle verfeuert, nur eben in einem kürzeren Zeitraum. "Und dagegen möchten wir Widerstand leisten und wir tun das heute hier, indem wir eine Einfahrt in den Tagebau blockieren."

Die deutsche Regierung hat mit dem Energiekonzern RWE einen Kompromiss vereinbart: Statt 2038 wird das Kohlezeitalter im rheinischen Kohlerevier bereits 2030 enden. Doch bis dahin wird eben weiter abgebaggert.

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Barrikaden der Umweltaktivisteneuronews

Gesanglich auf die Barrikaden

Immer mehr Mannschaftswagen treffen vor Ort ein. Während die Polizei mit Joels Blockade beschäftigt ist, klettert anderswo Greta Thunberg in den Tagebau. Aufgeregtes Hin- und Hergefunke, dann wird eine Hundertschaft Polizisten zu Fuß in Gang gesetzt, quer über die Felder. Auftrag: Greta fangen. 

Für die festgeklebten Aktivisten um Joel bedeutet das: Zwischenziel für heute erreicht. Und: langes Warten. Da die Aktivisten nur mit einer Hand festgeklebt sind, können sie mit der freien Hand Karten spielen. Einige füttern sich gegenseitig mit Schokoladenstückchen. Auf die Melodie eines alten Kanons stimmt die Gruppe dann ein Lied mit verändertem Text an:

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Steht auf! Leistet Widerstand!

Gegen die Braunkohle hier im Land!

Auf die Barrikaden! Auf die Barrikaden!

Wehrt Euch! Leistet Widerstand!

Gegen die Braunkohle hier im Land!

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Die Letzte Generation ist seit einem Jahr aktiv und hat bundesweit geschätzt knapp tausend Mitglieder. Geld kommt aus Spenden, in einem auf Twitter offengelegten Transparenzbericht wird auf Cent und Euro genau aufgeschlüsselt, was aus welchen Quellen eingenommen, was wie ausgegeben wurde. Crowdfunding, Sammelaktionen, Paypal-Überweisungen, Spendenaktionen, alles ist präzise aufgelistet.

Entklebe-Team der Polizei trifft ein

Nach etwa vier Stunden kommt das polizeiliche Spezialteam zum Entkleben. Im Instrumentenkoffer liegt ein Sortiment breiter Pinsel, hölzerner Spatel und… eine Flasche Salatöl. "Nur gut, dass ich vorher noch Speiseöl eingekauft habe", meint einer der Beamten zu einem Kollegen. „Wir hätten auch bei einer Frittenbude haltmachen können und Gebraucht-Öl mitnehmen sollen, zum Recyceln, wäre nachhaltiger gewesen“, witzelt gutmütig ein anderer Polizist. 

Vorsichtig und behutsam bepinseln die Polizisten die festgeklebten Aktivistenhände mit Öl, nach einigen Minuten lassen die sich dann loslösen. Einige Menschen lassen sich wegtragen, andere gehen auf eigenen Beinen. Die Personalien werden festgestellt. Das wars dann erstmal (das juristische Nachspiel folgt später).

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Einige der Aktivisten weineneuronews

Mit Menschen

Eine der Aktivistinnen muss weinen. Die stundenlange Anspannung, die Angst vor dem Klimakollaps, die Furcht, vielleicht doch nichts erreichen zu können… Sie wird getröstet, in den Arm genommen. Die Gruppe hat einen starken Zusammenhalt, man ist behutsam, achtet auf die anderen. Man ist unterwegs mit Menschen.

Spontan-Aktion auf dem Rückweg

Zu Fuß machen sich die Aktivisten auf den kilometerlangen Rückweg Richtung Zeltplatz, es beginnt zu dämmern. Ein großer RWE-Transporter fährt vorbei, ein Mannschaftsbus für Kohlekumpel, begleitet von Polizeifahrzeugen. 

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Joel vermutet, dass damit die im Tagebau festgesetzten anderen Klima-Aktivisten abtransportiert werden sollen. Spontan beschließt er, zusammen mit einem zweiten Aktivisten, den Transporter auf dem Rückweg zu stoppen. 

Doch diesmal läuft es anders: bevor der Sekundenkleber anzieht, reißen zwei reaktionsschnelle Polizisten die beiden Aktivisten weg vom RWE-Transporter. Die von mir gefilmte Szene löst auf Twitter eine heftige Diskussion aus.

Ein Stückweit auch Verzweiflung

Abschließende Frage an Joel: Wie fühlt ihr Euch jetzt, nach der Aktion?

Joel: "Eine Mischung aus Wut, Trauer und ein Stückweit auch Verzweiflung, wenn man diese große Kohlemine da sieht und nichts wirklich dagegen tun kann. Aber wir versuchen es und je mehr Menschen wir werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir Veränderungen herbeiführen können."

Bilderschlacht in Brüssel

Ich mache mich auf den Weg nach Belgien, nach Brüssel. Graukalter Nieselregen. An den Bushaltestellen hängen seltsame Plakate: Warnungen vor dicken Wagen und dem Weltende. Brutale Bilder von Autos, die Menschen überfahren. 

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Die illegale Werbe-Aktion haben sich wütende Klimaschützer ausgedacht. Sie wollen verhindern, dass die Verbrenner-Lobby den Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung strengerer Abgas-Normen verwässert.

Auto-Nein-Danke-Bewegung

Tona aus Großbritannien ist einer der Gründer der Auto-Nein-Danke-Bewegung „Brandalism“. Er ist nach Brüssel gereist, um den Menschen hier Praxistipps fürs illegale Plakatieren zu geben. Ich treffe ihn beim Frühstück in einer Wohngemeinschaft im Stadtzentrum. Hier wohnt Gingko, eine junge, in der Klimaschutzbewegung engagierte Belgierin, die alles lernen will über heimliches Poster-Kleben.

“Was passt Euch nicht an Autos?“, will ich wissen. Tona ergreift das Wort: „Autos werden immer größer und schwerer – und produzieren deshalb immer mehr CO2 und Dreck für die Nachbarn.“

Gebrochenes Bein mit Folgen...

Ich hake nach, wieso macht Ihr das? Andere Leute sitzen auf dem Sofa, lesen ein gutes Buch oder gehen ins Kino, während ihr da draußen im Regen unterwegs seid. Warum opfert Ihr Eure Zeit und Energie für so etwas?

Tona hat einen durchaus persönlichen Grund für sein Engagement: „In die Schule bin ich früher jeden Tag mit meinem Fahrrad gefahren. Als Kleinkind bin ich von einem Auto angefahren worden und ich hatte ein gebrochenes Bein.“ Sowas bleibt haften, ist prägend fürs ganze Leben. 

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Kampf für menschenfreundliche Großstädte

Aber da ist noch mehr. Als Jugendlicher lebte Tona in London, er liebt Skateboardfahren. Doch Jahr um Jahr hatten er und seine Kumpel weniger Raum fürs Skaten. London verwandelte sich in eine Autostadt. 

Tona – heute in seinen Mitdreißigern – geht es natürlich in erster Linie um Luftverschmutzung und Klimaschutz, aber nicht nur. Ihm geht es auch um Raum für Fußgänger, Familien, Jugendliche, Kinder, ihm geht es um eine lebenswerte Stadt. Dafür kämpft er. Auf der UK-Insel und auf dem europäischen Kontinent.

Eine Welt geht unter

Gingko, ein Deckname, stimmt ihm zu: „Überall sind Autos, auch hier bei uns in Belgien, – und niemand macht was dagegen. Als ich noch Studentin war, habe ich unter anderem Konferenzen über Kollaps-Theorien organisiert…“ – Ich gehe mit einer Frage dazwischen: „Hast Du Angst, dass das Ende der Welt vor der Tür steht?“ – Gingko meint:

„EINE Welt geht bestimmt unter. Also, ja, es beginnt schon jetzt.“ Sie verweist auf die katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan, die Klimaflüchtlinge dort und anderswo. „Menschen spüren das bereits ganz direkt“, die Klimakatastrophe ist angekommen im Hier und Jetzt, so Gingko. Und Verbrenner-Autos, Stadtpanzer-SUVs in allen Varianten tragen eben ihren Teil dazu bei - und sollten deshalb nicht länger beworben werden dürfen, meint sie. 

Verzweiflung und Zukunftsangst

Tona klinkt sich wieder in das Gespräch ein: „Wenn wir der Klimakrise allein gegenüberstehen, dann spürst Du Verzweiflung und echte Zukunftsangst, die Angst, dass wir nichts ausrichten können. Aber wenn wir uns zusammenschließen und gemeinsam eine gute Aktion machen… dann fühlt sich das schon verdammt gut an.“

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Dann hole ich wieder meine Demokratiefrage aus dem Reporter-Reisegepäck: Warum nicht einfach mitmachen in einer politischen Partei? Warum nicht „normal“ demonstrieren? Warum aus dem Raum des rechtlichen Handelns herausgehen? Warum Aktionen, die vom Gesetz nicht mehr gedeckt sind? 

Warum nicht normal demonstrieren?

Fragen, mit denen Gingko durchaus etwas anfangen kann und auf die sie Antworten hat: „Wir sind Bürger. Und wir handeln. In unserer Gesellschaft haben wir das Recht, demokratisch zu handeln. Das beschränkt sich nicht nur auf einmal wählen gehen alle fünf Jahre… Unsere Pflicht als Bürger ist mehr als das. – Ich gehe Risiken ein, ich kann Geldbußen bekommen, vielleicht muss ich eines Tages ins Gefängnis… ich weiß nicht, vielleicht setze ich meine Freiheit aufs Spiel.“ 

Sie erinnert sich an die vielen Demos, auf denen sie mitgelaufen ist. An die vielen Unterschriftensammlungen, bei denen sie mitgemacht hat. Was hat es gebracht? Was geändert? Wenig, meint sie. Und die Zeit läuft. Die Zeit wird knapp. So sieht es Gingko. Sehr knapp. Sie will Veränderungen in der Gegenwart, nicht in ferner Zukunft, auf lokaler, nationaler - und europäischer Ebene.

14 Städte in ganze Europa

Die Uhr tickt, nicht nur in der Aktivistenküche, auch in Tonas Kopf, er will den Zeitplan heute unbedingt einhalten – und überall in Brüssel warten weitere Aktivisten auf das Startzeichen. Nicht nur in Brüssel übrigens, die Plakat-Aktion ist abgestimmt mit Gruppen in anderen EU-Staaten, in 14 Städten wird heute geklebt, zeitgleich.

Alles vorher ausgespäht

Heute werden Riesenposter geklebt. Tona hat sie bei Künstlern in Auftrag gegeben. In den vergangenen Tagen haben bereits Kundschafter-Teams mögliche Ziele für das wilde Plakatieren ausgespäht. Inclusive operationeller Zusatz-Infos: Wo hängen Überwachungskameras? Gibt es in der Nähe einen privaten Sicherheits- oder Wachdienst, der seine Runde dreht? Auch hier: Eine minutiös geplante „Kommando-Aktion“.

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Tona blickt durch einen Spalt zwischen zwei Bretterlatten: „Okay, also ich denk mal, dass wir über diesen Zaun müssen zum Abchecken, dass da wirklich niemand drin ist vom Sicherheitsdienst.“ 

Damit niemand Verdacht schöpft, geben sich die illegalen Kleber als Profis aus, haben sich fluoreszierende Warnwesten übergestreift. Der Plakatkleister wird offen auf dem Bürgersteig angerührt, die lange Leiter tragen die Aktivisten im Arbeitertempo quer durch das Viertel. Keiner der Passanten schaut misstrauisch, keiner ruft die Polizei, sieht ja alles ganz normal aus, Plakatkleber halt…

Wir müssen es halt tun

Gingko hat Wirtschaft studiert und arbeitet für ein großes Unternehmen als Beraterin für Nachhaltigkeit. Sie steht mit beiden Beinen fest im Berufsleben. Für Klima-Aktionen opfert sie ihre Urlaubstage.

Das Team legt die Leiter an den Zaun eines privaten Betriebsparkplatzes. Tona wirkt unzufrieden mit den Kletterkünsten seines Teams, murmelt etwas von „so sehen Profi-Arbeiter aber nicht aus“ und drängt auf Eile. Gingko blickt sich um: „Ich dachte, da kommt die Polizei. Ich bin ganz schön nervös. Ich wünschte mir, wir müssten das nicht tun. Aber wir müssen es halt einfach tun.“ 

15 Jahre Antiwerbung

Dann wird geklebt, stundenlang, quer durch Brüssel. Und Gingko wird unter Tonas Anleitung immer besser. Jede Luftblase muss ausgestrichen werden. Viel Kleister verwenden, damit es gut hält. Und das Wichtigste ist Genauigkeit und Präzision. 

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Die Plakatbahnen müssen millimetergenau aufeinander abgestimmt werden, nichts ist schlimmer als ein schief geklebtes Protestposter. So sieht das Tona. Seit 15 Jahren wildert er im Werbedschungel, überklebt Plakate, mal gegen Fluggesellschaften, heute gegen Geländewagen.

Es braucht einen Schock

Seinen Protest stellt er vollmundig in die Tradition der Bürgerrechtsbewegung. „Dieses ewige Weiter-So-Denken fährt mit uns direkt in die Klima-Katastrophe. Wir müssen da rauskommen. - Das Frauenwahlrecht! Das Recht auf ein freies Wochenende! Das Recht, eine Gewerkschaft zu gründen! All diese sozialen Errungenschaften wurden erreicht durch direkte Aktionsformen, Politiker-Lobbying, Unterschriftenaktionen, Proteste…“

Tona ist Mitglied einer großen politischen Partei in Großbritannien, bezeichnet sich aber als passives Parteimitglied. Gingko möchte keiner politischen Partei beitreten. Doch die beiden sind sich einig: Politik ist zu langsam.

In einer Klebe-Pause lerne ich Gingko näher kennen. Die 26jährige isst kein Fleisch, seit kurzem macht sie auch bei härteren Klima-Aktionen mit: „Die Notlage lässt uns Dinge tun, die manchmal nicht legal sind, aber legitim. Das kann auch eine Strategie sein, dass man manchmal etwas Tempo zulegt. Manchmal braucht es einen Schock. Unser Ziel ist zu schockieren, denn nur so erwecken wir manchmal Aufmerksamkeit.“

Mit Memling in die Verbrennerhölle

Tona verdient sein Geld als Fahrradmechaniker in Großbritannien. Die teuren Plakat-Aktionen finanziert seine kleine Organisation aus Spendengeldern. Was ist Deine Hauptforderung, will ich von ihm wissen?

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Vor dem plakativen Hintergrund eines apokalyptischen Sturzes in die Verbrennermotorhölle, angelehnt an ein berühmtes Memling-Werk, meint Tona: „Die Werbe-Industrie drängt uns Richtung Umwelt-Kollaps. Deswegen brauchen wir neue Gesetze, wie ein sofortiges Werbeverbot für CO2-intensive Produkte.“ Bei der Tabakindustrie habe man das ja hinbekommen, warum nicht auch bei der Autoindustrie?

Den Tag beschließt die Gruppe in einer beliebten Brüsseler Bierkneipe. Die Aktivisten stoßen auf den Erfolg an, alle Poster kleben, niemand wurde festgenommen, es gab keine Zwischenfälle. Prost.

Letzte Renovierung

Und wieder sitze ich im Zug. Vorletzte Station meiner Reportagereise: Dijon in Frankreich. Die noch sehr junge, aber sehr schlagzeilenträchtige Gruppe „Dernière Rénovation“ macht seit Monaten immer häufiger von sich reden. Auch hier lief die anbahnende Kontaktaufnahme über verschlüsselte Kurznachrichten-Apps. Signal ist in der Szene wirklich beliebt.

Sébastien ist ein echtes Superhirn: Quantenmechanik, Teilchenphysik, hohe Mathematik, das ist so seine Welt. Wenn er nicht gerade Kürbis schneidet für sein und mein Mittagessen. Klar, Sébastien ist Vegetarier: „Gar nicht schwierig – und schmeckt gut.“ 

Sein Studium absolvierte er an einer Eliteuniversität. Der Staat unterstützte ihn während dieser Zeit mit einem großzügigen Stipendium, Begabtenförderung für die besten der besten. Jetzt will er der Gesellschaft etwas zurückgeben. Das ist ein Grund für sein Engagement bei der „Letzten Renovierung“, aber nicht der ausschlaggebende.

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Menschheit begeht Klima-Selbstmord

Seine Heimat sind mathematische Modellrechnungen. „Die Menschheit begeht Klima-Selbstmord“, warnt der langhaarige Forscher und Universitätsdozent unverblümt. Bei Sébastien ist das eine Überzeugung, die auf logischen Schlussfolgerungen und mathematischen Berechnungen beruht.

Also gut, hole ich mal wieder meine Demokratiefrage aus dem Rucksack. Warum nicht einfach mitmachen im „normalen Politikbetrieb“? Jetzt kommt eine echte Überraschung, denn Séb hat es versucht. Wirklich.

Sébastien trat den französischen Sozialdemokraten, der PS, bei, dann wechselte er enttäuscht zu den Grünen. Doch auch hier fand er keine politische Heimat: „Politiker denken nur bis zur nächsten Wahl“, klagt der Mathematiker. Überall Karrieredenken, statt mit der Klimakatastrophe zu kalkulieren. So lautet sein Vorwurf an die Adresse des üblichen Politbetriebs.

Ich habe schon die Tour de France blockiert

Sébastien will aufrütteln, ein Zeichen setzen. Während er mit dem hölzernen Kochlöffel in der Kürbis-Pfanne rührt, zählt er auf: „Ich habe schon bei einigen Aktionen mitgemacht: wir haben bereits die Tour de France unterbrochen. Das Ziel ist, dass die Leute sich der Notlage bewusst werden."

Der Bratkürbis riecht lecker. "Danach habe ich eine Blockade vor dem Parlament in Paris durchgeführt. Meine bislang letzte Aktion war auf der Pariser Umgehungsautobahn. Dort haben wir den Verkehr komplett lahmgelegt. – Deswegen steht mir nun im Juni ein Gerichtsverfahren bevor.“

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Schuldig oder nicht schuldig?

Und, will ich wissen. Schuldig oder nicht schuldig? „Ich werde auf nicht schuldig plädieren, bekräftigen, dass es notwendig war zu handeln - und dass ziviler Ungehorsam Bestandteil der Meinungsfreiheit ist.“

Sébastien weiter: „Das gesellschaftliche Engagement ergibt sich zwingend aus dem Problem der Notlage. Uns bleibt nur noch sehr wenig Zeit, den künftigen Generationen eine Chance zu geben, dass sie Lebensbedingungen haben, die ihnen ein Überleben ermöglichen. - Die Gerichte in Frankreich haben den Staat verurteilt, weil er nicht genug für das Klima unternimmt und haben ihm eine Frist gesetzt, um seine Zusagen umzusetzen. Doch der Staat hat das das nicht getan.“

Harte Frage: "Bist Du ein Klimaterrorist"?

Warum nicht auch einmal so eine richtig knallhart provozierende Frage stellen, denke ich mir. Also: Bist Du ein « Ökoterrorist »? Sébastien lässt sich nicht aus der Ruhe bringen: „Wir sind ökologisch. Die Terroristen sind im anderen Lager. Terroristen töten wahllos Menschen, blindlings. – Die Regierung provoziert durch ihr Nichtstun beim Klimaschutz meiner Meinung nach in den kommenden Jahrzehnten Millionen Tote, vielleicht mehr.“

Kordel statt Senkel für nachhaltige U-Haft

Auch diese letzte Station meiner Reise wird kein gemütlicher Küchenplausch bleiben. Sébastien bricht auf, füllt die Satteltaschen seines Klappfahrrads. Ich filme ihn beim Binden der Schnürsenkel: „Das sind alte Schuhe, da kann nichts mehr kaputtgehen. Und die Schnürsenkel habe ich gegen eine Kordel ausgetauscht, weil man uns in der Untersuchungshaft eh die Schnürsenkel abnehmen wird. Wenn nur die Kordel verschwindet, ist es nicht so schlimm, wie wenn die guten Schnürsenkel weg sind.“ 

Nachhaltiger kann man seine zu erwartende Unterbringung in Polizeigewahrsam wohl kaum vorbereiten… Aber auch hier lassen mich die Planer vorerst im Totaldunkel, was Ort und Ablauf der geplanten „Aktion“ betrifft. Ich weiß lediglich, dass wir von Dijon nach Paris müssen.

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Seinen Protest, den er als „Widerstand“ bezeichnet, sieht er gedeckt durch die Verfassung. Sébastien zieht klare Grenzen:

Ziviler Ungehorsam – ja! Umsturz – nein!

Egal ob spektakuläre Protestaktion oder internationaler Forscherkongress: Sébastien reist nur noch per Bahn zu seinen privaten und beruflichen Zielen: „Das war für mich ein wichtiger Moment, als mir klargeworden ist, dass es jede Menge Bestimmungsorte gibt, die man auch ohne Flugzeug oder Auto erreichen kann. Also habe ich entschieden, nicht mehr zu fliegen, auch nicht beruflich. Um beispielsweise nach Schweden zu kommen, fahre ich 30 Stunden mit dem Zug.“ Geht alles, nur eine Frage der Organisation.

Enttäuscht von der Behäbigkeit des durchschnittlichen Politbetriebs schloss sich Sébastien der Gruppe “Dernière Rénovation“ an, die eine Wärmedämmung für den gesamten Gebäudebestand Frankreichs fordert, und zwar bis 2040, subventioniert vom Staat.

Verschlüsseltes Telefonat mit Mastermind

Abend über der französischen Hauptstadt, Leuchtreklamen, flanierende Touristen auch im Januar, Bistrots, Geschiebe in der Metro, Paris eben. Über die verschlüsselte Signal-Applikation rufe ich von meinem Hotelzimmer aus einen der Organisatoren der Gruppe an, einen gewissen Nicolas: „Ich weiss immer noch nicht, wo genau die Aktion morgen früh stattfinden soll.“ Und wie soll ich das unter einen Hut bringen, einerseits die eingeforderte absolute Diskretion und andererseits filmen? „Soll ich mich wie ein Tourist verhalten, der mit seiner Kamera Fotos schießt?“

Nicolas gibt mir Anweisungen: „Da wird nicht viel Zeit sein, Tourist zu spielen, das wird alles sehr schnell ablaufen. – Du wirst in einigen Metern Abstand einer Person folgen, die dann die Aktion durchführt. In dem Moment, in dem Du siehst, dass es einen Übergang gibt, zwischen Gehen und Aktion, kannst Du Dein Telefon rausholen und filmen was und soviel Du willst.“

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Ziel im Herzen von Paris

Sehr viel schlauer bin ich nicht geworden. Immerhin bekomme ich eine verschlüsselte SMS mit einer Treffpunktadresse für den kommenden Tag, mitten im Herzen von Paris. Ein Blick auf den Pariser Stadtplan bringt mich nicht weiter, in der Nähe des Treffpunkts findet sich echt alles, da ist der Eiffelturm, um die Ecke der Sitz der französischen Regierung und eines der bekanntesten Museen der Welt. Sprich, die Aktion morgen könnte werden: Tomatensuppe auf Gemälde, Blockade von Eiffelturm oder Regierung. Irgendwas mit einem der zahlreichen Ministerien. Auch das Parlament ist nicht weit…

Wo ist die Frau mit kleinem Hund?

Verwirrspiel am kommenden Tag. Per SMS wird mir mitgeteilt, ich solle nach einer Frau mit kleinem Hund Ausschau halten. Die Kontaktperson ist in dem Café aber nirgendwo zu finden. Ich spreche mehrere Frauen mit Hunden an (in Paris gibt es davon nicht wenige…), die Kellner werfen mir bereits argwöhnische Blicke zu.

Aufgeregtes Hin- und Hergesimse mit „Mastermind Nicolas“, der sich offenbar im Café geirrt hat. Taktik oder Planänderung des Teams vor Ort? Wie dem auch sei, jetzt muss ich wieder mal rennen… Schnellspurt zum diesmal richtigen Treffpunkt, Bingo, da sitzt auf der Terrasse eine junge Frau mit einem kleinen Hund, umgeben von konspirativ wirkenden jungen Männern. Wir stecken die Köpfe zusammen, filmen darf ich (noch) nicht.

Erst jetzt erfahre ich das eigentliche Ziel: Das von Gendarmen und Kameras gut bewachte Umweltministerium.

Ein ganz spezieller Feuerlöscher

Ich verstecke mich hinter einer Bushaltestelle neben dem Eingang des Ministeriums. Auf einmal ist Lärm zu hören, quer über die Strasse läuft ein Aktivist direkt auf den Eingang zu und beginnt Farbe zu spritzen, sämtliche Polizisten stürzen sich auf ihn… Aha, das was also das Ablenkungsmanöver denke ich mir. 

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Und richtig, hier kommt auch schon Sébastien, aus einer anderen Richtung, die Polizisten bemerken ihn nicht. Der junge Wissenschaftler zieht ein schweres Ding aus seiner Tasche: einen ganz speziellen Feuerlöscher, gefüllt mit orangener Farbe, die er über die breite Eingangsfront des Umweltministeriums verteilt. Erst als die Flasche leer ist, wird er von einem der Gendarmen festgenommen.

Sébastien ruft laut: „Wer ist schuldig? Die Regierung steht klar außerhalb des Gesetzes. Hinter diesen Mauern verstecken sich die, die für uns entscheiden, die, die uns verurteilen (die unseren Untergang herbeiführen). Unsere Farbe kann man abwaschen, aber sie werden Blut an ihren Händen haben.“

Heute ist Seb wieder frei

“Schon gut”, kommentiert der Gendarm und schleppt Sébastien ins Innere des Gebäudes. Innerhalb weniger Minuten kommen die Mannschaftswagen der Polizei, sperren den Bereich ab. Sébastien kommt zunächst in Untersuchungshaft. Doch da keine Fluchtgefahr besteht, ist er heute wieder in Freiheit. Bald wird ein weiterer Strafbefehl in seinem Briefkasten in Dijon landen.

Seine Familie und seine Kollegen an der Universität akzeptieren Sébastiens etwas spezielle Freizeitaktivitäten. Manche unterstützen, einige bewundern ihn. Manche lehnen seine Methoden ab. Aber im persönlichen und beruflichen Umfeld herrscht Toleranz, von direkten Anfeindungen bleibt Sebastien weitgehend verschont, erzählt er. 

Brille von Nase geklaut

Ganz ohne Scherben geht es natürlich nicht ab. Bei der Blockade-Aktion des Pariser Autobahnrings verschwand die Brille von der Nase des Forschers, geklaut von einem wütenden Autofahrer... 

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Die Öffentlichkeit steht den radikalen Aktionen der Klima-Aktivisten zunehmend skeptisch gegenüber. Paris ist ein gutes Pflaster für Straßenumfragen, gute Mischung aller sozialen Schichten, Altersklassen, Herkunftsländer, Bildungsschichten. Einige der Passanten bleiben kurz stehen, werfen einen Blick auf die farblich aufgepeppte Fassade des Ministeriums, andere gehen einfach vorbei.

Kindische Spalter?

Ange aus London ist strikt gegen Klima-Aktivisten, von denen es auch in Ihrer Heimatstadt viele gibt und meint: „Durch derartige Aktionen werden die Leute nur noch wütender.“

Roc, ein junger Mann aus Lille, urteilt gleichfalls harsch: „Sowas ist doch kindisch.“

Stéphane, ein gut gekleideter Herr mittleren Alters aus Südfrankreich sagt empört: „Nein, das gefällt mir nicht besonders. Das ist öffentliches Eigentum und ich zahle Steuern.“

Albina ist US-Amerikanerin aus Miami und wählt ebenfalls klare Worte: „Öffentliches Eigentum zu zerstören ist absolut gar keine gute Idee.“

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Thibaut ist Pariser, rückt seinen Schutzhelm zurecht, er will mit seinem Scooter los: „Man sollte die Menschen für den Umweltschutz zusammenführen statt sie mit radikalen Aktionen wie diesen hier zu spalten.“

Théo, auch er aus Paris, äußert sich anders: „Man redet (aufgrund derartiger Aktionen) darüber und es ist gut, das Thema (Klimakatastrophe) auf die politische Tagesordnung zu setzen.“

Nur noch zwei Jahre

Ich muss daran denken, was mir Sébastien am Vortag in seiner Küche in Dijon gesagt hat: „Die Notlage besteht darin, dass die Wissenschaftler uns nur noch zwei oder drei Jahre geben, damit anzufangen, unsere Treibhausgasemissionen ernsthaft zu reduzieren. Wir sind mittlerweile fast am Ende der Sanduhr angelangt."

Der Forscher blickt mir in die Augen: "Angesicht der Zeit, die die Politiker brauchen, um Entscheidungen zu treffen, müssen wir jetzt enorm Druck machen, weil sonst nichts getan sein wird, wenn die Zeit abgelaufen ist.“

Weitere Quellen • Schnitt: Guillaume Carrolle; Grafiken: Matthieu Michaillat, Thierry Lapras; Ton: Lionel Dussauchoy; Technische Unterstützung: Vincent Staub; Produktion: Géraldine Mouquet Praktikanten: Eleanor Butler, Capucine Lazaro; Produktionsleitung: Sophie Claudet

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